Zerwas hörte den Zauberer leise neben sich lachen.
Der Bordellbesitzer hatte schon einen merkwürdigen Sinn für Humor, doch offensichtlich war seine Strategie erfolgreich. Schon warfen die ersten Bogenschützen ihre Waffen ins Gras und stürmten mit gellenden Schreien ins Lager zurück.
Die Reiter hatten die mittlere Rampe erreicht. Kein Krieger war dort, um sich ihnen in den Weg zu stellen. Vor ihnen lag das Lager der Ork's. Ein wimmelndes Chaos aus Gestalten, die ihr Glück in der Flucht suchten. Nirgends schienen sich Gruppen zum Widerstand zu bilden. Das wird kein Kampf, sondern ein Schlachtfest, dachte der Vampir und umklammerte ›Seulaslintan‹ fester. »Für Boron!« rief er noch einmal und trieb seinen Rappen zwischen die Flüchtenden.
Die Orks kreischten schrill auf, wenn sie von der Kugel aus Dunkelheit verschluckt wurden. Orientierungslos tappten sie umher oder warfen sich wimmernd zu Boden. Die Schwerter seiner Streiter fanden reiche Beute. Zerwas war der Kampf zuwider, doch ›Seulaslintan‹ bebte vor Lust. Auch Sartassa jauchzte vor Vergnügen. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihre Gegner nicht zu töten, sondern durch gezielte Schläge zu verstümmeln. Ihr offenes schwarzes Haar umgab sie wie ein Umhang. Zerwas leckte sich über die Lippen.
Er wußte, daß er von dieser Frau besessen war, und er hatte es schon lange aufgegeben, dagegen anzukämpfen. Er sehnte die Nacht herbei. Stunden, in denen sie endlich wieder zu zweit sein würden.
Ein Ork taumelte gegen sein Pferd. Mit raschem Schlag spaltete der Vampir ihm den Schädel.
»Laßt uns halten und Feuer legen, es ist genug.« Der Vampir zügelte sein Pferd.
»Warum?«, erklang Sartassas Stimme hinter ihm. »Wir können noch Dutzende Orks niederstrecken. Laß sie uns in die Hügel verfolgen. Sie sind geschlagen und bilden keine Gefahr mehr.«
»Sie hat recht, Zerwas. So leicht können wir nie wieder Rache für unsere Toten nehmen«, stimmte ihr Lancorian zu.
Unwillig gab der Vampir seinem Rappen die Sporen. Die anderen waren vorwärtsgeprescht, ohne sich weiter um seine Einwände zu kümmern. Er blickte zum Himmel. Die Sonne stand schon mehr als eine Handbreit über dem Horizont. Er fühlte sich unwohl. Duldete er, daß eines seiner Opfer zum Vampir wurde, so herrschte ein unsichtbares Band zwischen ihnen. Er fühlte sich wie eine Art Vater. Er mußte sie schützen, denn es waren seine Geschöpfe. Sie hatten nur noch wenig Menschliches an sich, auch wenn sie es selbst noch nicht wußten. Er hatte gestattet, daß diese dunkle Saat aufging, und nun trug er die Verantwortung für sie. Wieder beobachtete er den Magier. Lancorian schien keine Waffe zu haben. Er beteiligte sich nicht am Kampf. Dann wurde der Vampir abgelenkt, denn sie hatten wieder eine Gruppe fliehender Orks erreicht.
Das Gefecht war nur kurz. Ein freudloses Gemetzel. »Genug!« rief Zerwas wieder mit lauter Stimme. »Wir reiten zurück. Es reicht.« Unruhiges Gemurmel wurde zwischen den Reitern laut.
»Warum lassen wir sie ziehen?« fragte Sartassa.»Hat je ein Ork einen Menschen geschont?« rief ein anderer. »Laßt sie uns verfolgen und bis auf den letzten auslöschen!«
Zerwas drehte sich nach dem Magier um. Er entfernte sich schweigend von der Gruppe. Der Vampir wollte ihm etwas zurufen, doch im selben Augenblick blendete ihn ein gleißend heller Lichtstrahl. Die Dunkelheit, die sie schützend umgeben hatte, war verschwunden. Mit gellenden Schreien stürzten die Vampire von ihren Pferden. Zerwas sprang aus dem Sattel, suchte Sartassa. Die Elfe lag zusammengerollt im Gras. Ihre Hände bohrten sich in die Erde. Sie schrie wild vor Schmerz. Zerwas berührte sie mit der Schwertspitze zwischen den Schultern.
»Rette sie«, flüsterte er. »Rette sie, oder du wirst mich verlieren!« Doch nichts geschah. Es roch nach verbranntem Fleisch. Der Vampir sah, wie der Elfe die verschrumpelte Haut von den langen schlanken Fingern riß. Sie hatte aufgehört zu schreien, röchelte nur noch leise. Dann drehte sie sich um. Ihr Gesicht war eine gräßliche Maske des Todes. Das Fleisch schien ihr von den Knochen geschmolzen zu sein. Dünn spannte sich rissige Haut über ihren Schädel. Ihre prachtvollen Lippen waren nur noch blasse, beinahe farblose Striche. »Auf Wiedersehen ...« flüsterte sie leise. Kaum konnte er ihre gehauchten Worte verstehen. Er beugte sich vor und legte sein Ohr auf ihre verfallenen Lippen. »Auf Wiedersehen in ... der Finsternis, ... mein Geliebter.« Kraftlos preßte sie ihre Lippen an sein Ohr. Dann sank der Kopf der Elfe zurück.
Im hellen Licht der Sonne zerfiel ihr Schädel zu Staub. Allein ihre Waffen und ihre Rüstung blieben im hohen Gras zurück.
Zerwas hob seine Fäuste zum Himmel und schrie seine Wut heraus. Um ihn lagen alle seine Gefährten und waren das Opfer des Sonnengottes geworden. Zerwas fluchte auf Praios. Fluchte, daß er nicht das Schicksal seiner Geliebten teilen konnte, und dann blickte er sich nach Lancorian um. Der verräterische Magier sollte ihm büßen. Mit einem Satz saß er wieder auf seinem Rappen, gab dem Tier die Sporen und preschte durch die Hügel auf die Stadt zu.
Als er das verlassene Lager der Orks erreichte, mußte er erkennen, daß es zu spät war. Der blonde Magier ritt durch die Bresche in der Ostmauer. Zerwas erkannte den roten Umhang Marcians. Der Inquisitor hatte dort auf ihn gewartet.
Unablässig wirbelten Worte durch seinen Kopf, Worte, die Fingerzeige auf sein Schicksal gewesen waren und die er nicht richtig verstanden hatte. Wieder erinnerte er sich, wie Marcian ihm versprochen hatte, ihm und seinen Kreaturen würde in der Stadt nichts geschehen. Zerwas schnaubte vor Wut. Dieser Praios-Sklave hatte Wort gehalten! Dann dachte er an den wahnsinnigen Propheten, der ihm geweissagt hatte, das Licht des Praios werde ihm Schmerzen bereiten. Die Sonne stand nun schon hoch am Himmel. In zwei Stunden würde Mittag sein. Der Vampir wendete sein Pferd. Er würde nicht in die Stadt zurückkehren. Nicht jetzt. Wenn er wiederkam, dann wollte er die Klinge des Eroberers in der Hand führen. Marcian sollte dasselbe fühlen, das er gefühlt hatte, als Sartassa vor seinen Augen starb. Auch er sollte seine Liebe hilflos vergehen sehen!
»Der schwarze Dämon verläßt die Stadt. Wir sind gerettet.« Der Krieger, der gesprochen hatte, drehte sich zu Sharraz Garthai um. Gemeinsam mit einigen Getreuen stand der General der Orks auf einem Hügel und hatte aus sicherer Entfernung mitangesehen, was geschehen war. »Blast die Hörner! Schickt Reiter in die Hügel und sucht die Versprengten. Die Menschen haben unser Lager nicht zerstört, und noch immer stehen Truppen in den Schanzen vor den Stadttoren. Wir werden zurückkehren. Wir werden Rache nehmen!« Sharraz Garthai schritt langsam den Hügel hinab. Heute war der erste Tag in seinem Leben, an dem er vor etwas davongelaufen war. Dafür sollten die Menschen büßen. Für einen erneuten Sturmangriff waren ihm zu wenige Krieger geblieben. Aber er konnte noch immer den Belagerungsring dichter schließen. Er würde die Stadt mit Erdwällen umgeben und dafür sorgen, daß niemand mehr hinauskam, bis die Menschen verrückt vor Hunger zu ihm gekrochen kamen und um Gnade flehten.