Vor vier Tagen hatte er sich in Wehrheim von ihnen getrennt und dabei noch einmal ihre Verkleidungen überprüft. Als Bauern, Händler, wandernde Heiler und Gaukler würden sie sich in Greifenfurt einschleichen. Die beiden, die man beim besten Willen nicht verkleiden konnte, den Zwerg und die Elfen, sollten sie nachts über die Stadtmauer holen. Sorgfältig hatte er alle noch einmal gemustert und ihre Waffenverstecke überprüft. Sie durften nichts Kriegerisches an sich haben, wenn sie ungeschoren durch die Posten und Patrouillen der Orks bis zur Stadt kommen wollten. Er war gespannt, ob es alle bis zur ›Fuchshöhle‹, ihrem Treffpunkt in Greifenfurt, schaffen würden.
Er selbst verstieß allerdings aufs Gröbste gegen alle Vorsichtsmaßnahmen, die er seinen Leuten eingebleut hatte. In prächtiger Rüstung und mit flammend rotem Umhang näherte er sich der Stadt. Eine Provokation! Aber das war beabsichtigt. Er ritt weit abseits der Reichsstraße, so daß die Wahrscheinlichkeit geringer war, auf Orks zu stoßen. Doch selbst wenn! Größere Trupps kamen meistens zu Fuß, so daß er auf seinem Schlachtroß ohne Probleme entkommen konnte, und einem kleineren Trupp würde er sich stellen, so wie den dreien heute morgen, die den tödlichen Irrtum begingen, ihn für leichte Beute zu halten. Zwei waren jetzt ein Fraß für die Raben. Der dritte konnte ihm leider in einem Waldstreifen entkommen.
Sein eigentliches Ziel war es aber, nicht den Orks aufzufallen, sondern den Freischärlern, die in der Region um Greifenfurt operierten. Wenn er die Garnison der Stadt erobern wollte, brauchte er mehr als nur einige bewaffnete Bürger. Er mußte die Freischärler überreden, sich ihm anzuschließen. Nach allem, was er über sie gehört hatte, war eine Amazone ihre Anführerin. Das machte die Sache nicht gerade leichter.
Erst gestern hatte er die schwelenden Reste eines Versorgungszugs der Orks gefunden. Weniger die verkohlten Wagen als die verstümmelten Leichen verrieten die Handschrift der Amazone. Angeblich machte sie nie Gefangene; in der Art mit ihren Opfern umzugehen unterschieden sich diese Streiter kaum noch von den Orks. Auch sie nahmen Skalps und folterten die Überlebenden der Überfälle. Es war an der Zeit, daß er das Licht des Praios wieder in die Grafschaft Greifenfurt brachte. Ein schöner Satz, überlegte Marcian, er sollte ihn sich für später merken, wenn er vor den Bürgern der Stadt reden würde.
Was sich heute Freischärler nannte, hätte man vor zwei Jahren noch als Wegelagerer und Halsabschneider gejagt. Doch je länger der Krieg dauerte, desto mehr verlor der Ehrenkodex selbst bei den Rittern des Prinzen an Bedeutung. Es war wohl kaum einer unter den Soldaten der kaiserlichen Armee, der in den Schlachten des letzten Jahres nicht schon einen Freund neben sich hatte sterben sehen. Wie verbittert mußten erst die Freischärler sein, die seit einem Jahr Tag für Tag ihr Leben riskierten? Die meisten von ihnen hatten Heim und Familie durch die Orks verloren. Sie wollten nur noch Rache. An diesem Punkt mußte Marcian ansetzen, wenn er sie überreden wollte, die schützenden Wälder zu verlassen und mit ihm gegen die Garnison in Greifenfurt zu ziehen. Es dämmerte. Marcian mußte sich nach einem geeigneten Lagerplatz umschauen. Den Tag über war er durch eine weite, grasbewachsene Ebene geritten. Nur hier und da gab es kleine Mulden, in denen Buschwerk wucherte. Dort hatte er sich mit dürren Zweigen für ein Lagerfeuer eingedeckt.
Mit Einbruch der Dunkelheit fand er einen sanften Hügel inmitten der Graslandschaft. Ungefähr eine Meile entfernt begann ein weitgestrecktes Waldgebiet. Hier mußte es gelingen! Er würde alle Regeln zum Schutz vor unliebsamen Besuchern in den Wind schreiben und mitten auf dem Hügel sein Feuer entfachen. Bei Nacht mußte man es meilenweit sehen.
Schon Stunden hatte Marcian, in eine dunkelgrüne Decke gehüllt, an der Flanke des Hügels in Deckung gelegen. Neben dem viel zu großen Feuer hatte er seinen roten Umhang so drapiert, daß man bis auf ein paar Schritt Entfernung glauben mußte, er schlafe neben dem Feuer. In der Dunkelheit schnaubte sein Pferd. Er hatte es ein gutes Stück vom Hügel weg angepflockt. Wieder wieherte das Pferd. Sollte er doch noch Erfolg haben? Oder war diese Falle zu offensichtlich? Nein! Jetzt hörte Marcian leise Schritte. Zwei Gestalten schlichen den Hügel herauf. Vorsichtig tastete Marcian nach der Armbrust neben sich. Ganz langsam, jedes Geräusch vermeidend spannte er die Waffe. Gleich mußten die beiden den Schwindel entdecken. Es waren irgendwelche Strauchdiebe. Genau darauf hatte er gehofft. Nun schob der eine seine Speerspitze unter den Umhang neben dem Feuer, um ihn dann mit einem Ruck fortzureißen.
»Verdammt, Erek, man hat uns reingelegt! Nichts wie weg.«
»Bleibt, wo ihr seid!« Marcian sprach nicht laut, aber in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete. Langsam richtete er sich auf und trat mit gespannter Armbrust vor.
»Ich habe nicht vor, euch zu töten, es sei denn, ihr laßt mir keine Wahl.« Marcian sprach in einem sehr selbstgefälligen Ton. Er wußte, wie er in voller Rüstung auf seine Gegner wirkte.
»Gehört ihr zu den Freischärlern, oder seid ihr nur irgendwelche Strauchdiebe?«
Hämisch grinsten sich die beiden an. Ihr Aufzug war erbärmlich. Sie steckten in geflickten Lumpen, trugen dunkle löchrige Umhänge und hatten sich die Gesichter mit Ruß geschwärzt. Dann sagte der eine: »Ritter, legt eure Waffe weg. Wir möchten nicht, daß der Prinz einen seiner Streiter verliert!«
Marcian verschlug es schier die Sprache. So viel Dreistigkeit hatte er schon lange nicht mehr erlebt. Die beiden schienen den Ernst der Lage zu verkennen, in der sie sich befanden. Nur ein Zucken mit dem Finger, und der erste würde mit einem Armbrustbolzen in der Brust sterben. Den zweiten dann mit dem Schwert niederzumachen wäre eine Kleinigkeit.
Wie zum Hohn wieherte das Pferd irgendwo hinter ihm. Marcian unterdrückte mühsam seinen Ärger und sagte: »Glaubt ihr nicht, daß ihr den Ernst der Lage verkennt?«
»Ich denke eher, daß du den Ernst der Lage verkennst!« ertönte eine Frauenstimme hinter ihm. »Vor Eurem Lagerfeuer gebt Ihr ein erstklassiges Ziel ab, und zehn Bogenschützen warten nur auf ein Wort von mir, um Euch zu Boron zu schicken.«
Langsam ließ Marcian seine Armbrust sinken. Die zwei Gestalten neben dem Feuer kamen herüber und nahmen ihm die Waffe ab. »Laßt ihm sein Schwert!« ertönte es wieder aus der Finsternis. »Er ist doch ein Ritter, und Ritter neigen dazu, Dummheiten zu machen, wenn man nach ihrem Schwert greift.«
Marcian drehte sich um und sah die Frau mit kräftigen Schritten den Hügel heraufkommen. Angestrengt spähte er in die Dunkelheit. Er konnte beim besten Willen keine Bogenschützen entdecken.
»Suchst du was?« fragte ihn die Frau provozierend grinsend. »Dort draußen stehen so viele Bogenschützen, wie ich Barthaare habe. Glaubst du ernsthaft, deinetwegen würde ich hier mit großem Aufgebot anrükken. Wie du siehst, kommen wir ja auch so ganz gut zurecht. Nun laß uns darüber reden, was du hier verloren hast.«
Marcian hatte gefunden, was er suchte. Die Begegnung mit der Amazone Lysandra war zwar anders gelaufen als geplant. Was sie in die Grafschaft Greifenfurt verschlagen hatte, konnte er nicht aus ihr herausholen, doch das war auch nur Nebensache. Über eine Stunde lang hatte er ihr erklärt, wie er die Orks aus Greifenfurt vertreiben wollte und daß er dazu die Unterstützung der Freischärler brauchte. Nun starrte er Lysandra an, die die ganze Zeit geschwiegen und nur gelegentlich den Kopf geschüttelt hatte.