»Offengestanden finde ich deinen Plan nicht besser als den, mit dem du deinen Weg zu mir machen wolltest.«
»Habe ich dich vielleicht nicht gefunden?« fragte Marcian gereizt. »Ich habe dich gefunden!« erwiderte Lysandra.
»Das war mein Plan.« Marcian verspürte nicht die mindeste Lust auf eine Diskussion über seine Fähigkeiten als Stratege. Sein Plan, die Stadt zu erobern, war narrensicher.
»Und was passiert, wenn wir die Stadt erobert haben?« Lysandra blickte ihn ernst an. »Was glaubst du, wie lange die Orks brauchen werden, um Greifenfurt zurückzuerobern?«
»Dazu wird es nicht mehr kommen. Seit der Schlacht bei Silkwiesen sitzt dem Schwarzen Marschall und seiner fliehenden Armee Oberst Blautann mit seinen Reitern im Nacken. Die Orks werden nicht einmal dazu kommen, sich neu zu organisieren. Der Prinz wird mit dem Heer nachrücken, und bald ist die ganze Grafschaft Greifenfurt wieder in seiner Hand. Wir werden die Stadt vielleicht zwei oder drei Wochen halten müssen.«
Marcian mußte seine Taktik ändern. Auf diesem Weg würde er Lysandra nie überzeugen. Seit einem Jahr operierte sie aus der Sicherheit der Wälder. Er sah ja ein, daß sie sich in der Stadt den Orks wie auf einem Präsentierteller auslieferten, wenn die Verstärkung nicht schnell genug nachrückte.
»Natürlich wird es nicht leicht sein, die Garnison zu überwältigen und die Stadt zu halten, bis Prinz Brin eintrifft. Aber Rondra liebt Krieger, die ein Risiko eingehen. Leichte Siege ignoriert die Göttin. Es ist viel einfacher, weiter in den Wäldern zu sitzen und gelegentlich aus dem Hinterhalt eine Orkpatrouille zu überfallen. Ich verstehe dich, wenn du in erster Linie auf eure Sicherheit bedacht bist.«
Wütend blitzte Lysandra ihn an. »Willst du damit andeuten, wir seien feige?«
»Nein, nein!« erwiderte Marcian schnell. »Ich meine nur, daß diese Aufgabe vielleicht zu schwierig für euch sein könnte. Schließlich ist es etwas anderes, eine Stadt zu erobern, als einen Wagenzug zu überfallen.«
Langsam richtete sich Lysandra auf. »Deine rhetorischen Tricks sind genauso durchsichtig wie dein Versuch, meinen Leuten einen Hinterhalt zu legen. Glaube mir, Marcian, hier draußen würdest du nicht einen Winter überleben. Wenn ich dir helfen sollte, dann nur, weil ich die Möglichkeit sehe, beim Kampf gegen die Garnison viele von diesen Schwarzpelzen zu ihrem Blutgott zu schicken. Wenn wir siegen, werde ich die Stadt genau so schnell wieder verlassen, wie wir sie erobert haben. Und wenn nicht ...« Lysandra drehte sich um und zuckte mit den Schultern. »Sterben muß jeder einmal.«
»In drei Tagen warte ich mit meinen Leuten um Mitternacht vor dem Andergaster Tor. Eine Stunde vor Morgengrauen werden wir uns wieder zurückziehen, wenn das Tor bis dahin nicht geöffnet wurde.« Ohne sich noch einmal nach Marcian umzudrehen, ging Lysandra den Hügel hinab. Ihre beiden Männer folgten ihr.
Sharraz Garthai war beunruhigt. Seit Tagen wich der verrückte Prophet, dessen Leben der Bote des Blutgottes geschont hatte, nicht mehr von seiner Seite. Immer wieder flüsterte er mit heiserer Stimme: »Der Tod trägt rot.« War das die Warnung, auf die der Götterbote in jener stürmischen Nacht vor über einem halben Jahr angespielt hatte?
Dann war da auch noch der Krieger, der heute morgen alleine von einer Streife zurückgekommen war und überall von einem mächtigen Ritter mit flammendrotem Umhang erzählte, der seine Kameraden tötete. Mußte er sich vor diesem Menschen hüten? Auf jeden Fall war es besser, der Stadt den Rücken zu kehren. Er würde erklären, daß er die anderen Ortschaften der Provinz Finstermark bereisen werde, um dort Tribut einzutreiben. Seit Monaten hatte er Greifenfurt nicht mehr verlassen. Er würde seine besten Krieger um sich scharen, einige Karren herrichten lassen und morgen aufbrechen. Sein Entschluß stand fest!
Marcian war ohne Schwierigkeiten in seiner Verkleidung als wandernder Augenarzt in die Stadt gekommen. Man hatte sich nur über sein prächtiges Pferd gewundert, worauf er kurzerhand eine rührselige Geschichte von einem alten Grafen erzählte, dem er das Augenlicht zurückgegeben habe und der ihm darauf voller Dankbarkeit das Pferd schenkte. Nun genoß er in einem großen Holzzuber liegend das erste Bad seit einer Woche. Sharraz Garthai hatte am Morgen die Stadt verlassen, um die anderen Provinzstädte zu bereisen. Dabei hatte er die halbe Garnison mitgenommen. Das würde die Pläne sehr erleichtern. Nun galt es, unauffällig die Posten zu beobachten, einen Plan zum Angriff auf die Garnison auszuhecken, und die Bürger aufzuwiegeln. Ohne den Herrn der Stadt in der Nähe würde das alles vermutlich leichter werden. Nach seiner Erfahrung pflegte die Aufmerksamkeit von Garnisonen stets nachzulassen, wenn die Kontrolle von oben ausfiel. Marcian würde in die ›Fuchshöhle‹ gehen und dort versuchen herauszufinden, ob die Wut der Bürger auf die Orks zu einem Aufstand reichte oder ob er sich allein auf die Unterstützung der Amazone und ihrer Streiter verlassen müßte. Außerdem hatte er über Informanten der Inquisition herausgefunden, daß er in diesem Bordell einen alten Freund wiedertreffen würde. Sein Leben hatte sich zwar erheblich geändert, seit er den Magier Lancorian zum letzten Mal gesehen hatte, doch glaubte Marcian, in ihm noch immer einen zuverlässigen Freund zu finden. Außerdem würde er ein verläßlicher Informant sein, wenn er nicht mittlerweile völlig zum Sklaven seiner Laster geworden war.
Lancorian war gelangweilt. Diese Orks waren einfach zu phantasielos. Was waren das noch für Zeiten gewesen, als er die ausgefallenen Wünsche der Offiziere der kaiserlichen Garnison erfüllen mußte. Da sollte er alanfanische Rauschkrauthöhlen erschaffen, den Harem des Kalifen vortäuschen oder die Atmosphäre eines maraskanischen Freudenhauses nachahmen. Den Orks fiel einfach nichts ein. Sie wünschten sich von ihm Illusionen von Lederzelten oder weite Graslandschaften, und das mit gnadenloser Penetranz, immer und immer wieder. Da war ihm ja selbst dieser dicke almadanische Hauptmann lieber gewesen, der nur dann konnte, wenn der Raum vom Lärm einer Schlacht widerhallte und die Illusion einer brennenden Festung das Bild abrundete.
Ein Bordellmanager zu sein, das war in einer von Orks besetzten Stadt wirklich keine Freude! Wenn er die Mädchen hier nicht so mögen würde, hätte er schon längst Greifenfurt verlassen. Schließlich war es schwierig, einen begabten Illusionisten zu finden, der sich in einem Freudenhaus niederließ. Alle Akademiemagier, die er je kennengelernt hatte, waren viel zu eingebildet, um diesen äußerst lukrativen Beruf zu ergreifen. Leider war auch die Bezahlung in letzter Zeit nicht mehr so wie früher. Die Orks waren einfach zu unkultiviert, um auch nur auf die Idee zu kommen, ein Trinkgeld zu geben. Manchmal vergnügten sie sich auch nächtelang mit einem Mädchen und vergaßen das Bezahlen. Einige begriffen einfach nicht, daß man hier nicht aus lauter Liebe so nett zu ihnen war. Sollten sie ihren Spaß doch auf der Straße suchen! Hier wurde das wesentlich professioneller gehandhabt, und deshalb meinten wohl auch alle Offiziere der Orks, nach Gutdünken in der ›Fuchshöhle‹ ein- und ausgehen zu können. Heute abend ging es wieder besonders wild zu. Lancorian warf einen Blick durch eines der kleinen Fenster.
Seit der Verweser Sharraz Garthai am Morgen die Stadt verlassen hatte, schien kein Offizier mehr auf seinem Wachtposten zu stehen. Alle hatten sich hier zu einem gewaltigen Saufgelage versammelt und auch noch fast alle Mädchen des Hauses mit Beschlag belegt.
Oben in der Schenke ging es ruhiger zu. Viele Fremde waren im Moment in der Stadt. Der Ruf der ›Fuchshöhle‹ reichte weit. Kaum ein Reisender ließ es sich nehmen, vorbeizuschauen. Früher hatten hier Jäger und Nordlandhändler häufig in einer einzigen Woche das Einkommen einer ganzen Saison verhurt. Jetzt war solche Kundschaft dünn gesät.
Lancorian stieg einige Stufen empor, um von der vermauerten Wendeltreppe aus, die das ganze Bordell durchzog, einen Blick in die Schenke zu werfen. Früher war sein Versteck eine großzügig angelegte Treppe gewesen, die sich von den Kellergewölben bis zur Turmspitze durch dieses verwitterte Gemäuer zog. Alle Räume konnte man von hier aus einsehen. Der ideale Arbeitsplatz für einen Spezialisten wie ihn, denn viele Kunden waren bedauerlicherweise plötzlich sehr gehemmt, wenn ein Magier sich mit ihnen im selben Raum befand, um die bestellten Illusionen zu erschaffen. Valliessa, die Besitzerin dieses Etablissements, hatte ihr ganze Geld in die Turmruine gesteckt und aus dem Trümmerhaufen das berühmteste Bordell im Nordland gemacht. Jetzt war einiges vom Glanz vergangener Tage verblichen. Sie hatten sogar einen Verschlag für Geflügel und einen zusätzlichen Stall anlegen müssen, denn wenn die Orks zahlten, brachten sie meist Naturalien mit. Manchmal war Lancorian der Überzeugung, daß sie einfach nicht richtig begriffen, was Geld bedeutete.