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KAPITEL SECHZEHN

Seit fast zwei Monaten hatte Lloyd Smith nichts mehr von seinem Neffen Holden Xavier gehört. Xavier war nicht Holdens richtiger Nachname – und Holden nicht sein richtiger Vorname –, aber Lloyd hatte es längst aufgegeben, sich wegen der Launen seines Neffen Gedanken zu machen. Holden mit seiner Leidenschaft für Schnappschüsse, war ein Geheimnis für ihn, und er akzeptierte seinen Neffen, so wie er war. Er liebte ihn wie er einen eigenen Sohn geliebt hätte, falls ihm und Emily ein Kind vergönnt gewesen wäre. Aber unglücklicherweise war Lloyd nicht zeugungsfähig, und bevor Holden in England aufgetaucht war, hatte Lloyd nicht gewußt, wie es war, sich um einen jungen Menschen zu kümmern, ihn zu verstehen und schließlich zu lieben.

Holden war erst fünfundzwanzig Jahre alt, schlank und blond, gutaussehend, ein ausgezeichneter Koch, besaß einen wunderbaren künstlerischen Geschmack, verdiente gutes Geld, war kultiviert und sehr amüsant. Lloyd vermißte ihn, sobald er nicht hin und wieder anrief, ihm fehlten die Gespräche über Poesie, Musik, oder… egal. Doch am meisten vermißte er Holdens schwachen Akzent und seine entwaffnende Begeisterung für alle glänzenden und schönen Dinge, für alle Geschöpfe, groß und klein.

Alle Geschöpfe, außer den Fröschen.

Am zweiten Tag der Froschplage, als Millionen von diesen Kreaturen aus dem Fluß stiegen, um über die Stadt herzufallen, beschloß Lloyd, sein Versprechen zu brechen, Holden weder zu Hause anzurufen noch zu besuchen. Lloyds Nachricht auf dem Anrufbeantworter wurde nicht erwidert, und er bekam Holden nie persönlich an den Apparat, weder in seiner Wohnung noch in seinem Studio. Vielleicht war Holden in eine zeitaufwendige, heiße Affäre verstrickt – er besaß eine recht obsessive Persönlichkeit –, bei der keine Zeit für Einflüsse von außen blieb. Nun, sei es, wie es sei, Lloyd wollte wissen, ob es seinem Neffen gutging, und falls er störte, war es eben Pech für Holden.

Leider lebte Holden in Surbiton, und obwohl Lloyd wußte, daß ein Aufenthalt in dieser Gegend nicht ungefährlich war, wollte er es wagen. Die Frösche waren überalclass="underline" auf den Bürgersteigen, in den Straßen und Gassen, den Häusern, den U-Bahn-Stationen, den Zügen, Betten, Anzugtaschen, Handtaschen, Geschirrschränken, in der Unterwäsche – einfach überall. Es waren gewöhnliche Frösche, Rana temporaria, sieben Komma fünf Zentimeter lang und unterschiedlich gefärbt. Die Farbpalette reichte von grau, gelb, braun, orange, rot bis hin zu schwarz; es gab gesprenkelte und marmorierte Exemplare, aber sie alle waren ungenießbar, sehr zum Verdruß der thailändischen und französischen Restaurants. Sie verstopften Rinnsteine und Toiletten und verursachten Überschwemmungen. London stank. Sie fabrizierten Kurzschlüsse und legten Maschinen lahm, indem sie in sie hineinkrochen. In London lief nichts mehr. Die Frösche verschafften sich Zugang zu Vorratskammern und Speiseschränken, krochen in Pasteten und Kuchen, und ihre widerwärtigen Exkremente waren überall zu finden. London war widerlich.

Doch das schlimmste an ihnen war, daß man ihnen nicht ausweichen konnte. Lloyd haßte sie. Bei jedem Schritt trat er mit seinen italienischen Schuhen bis zu vier Frösche platt, wobei es ihm kalt den Rücken herunterlief. Die Froschinnereien spritzten herum, sammelten sich in seinen Hosenaufschlägen und beschmutzten seine schottischen Wollsocken. Sie verwandelten ganz London in eine tödlich glatte Rutschbahn; so gefährlich wie Eis im Winter. Die Krankenhäuser waren voll mit alten Menschen, die gefallen waren und sich die Hüfte gebrochen hatten. Die aufgedunsenen Froschkadaver faulten in der Sonne und erfüllten die Luft mit einem übelriechenden Gas, das bei Lloyd Brechreiz verursachte. Eine derartige Umweltverschmutzung hatte zwangsläufig Krankheiten zur Folge.

Und sie stiegen unablässig aus der Themse, mehr und mehr, und hüpften übers Ufer, als berge der Fluß unzählige ihrer Art. Sie schwärmten über Gebäude und Friedhöfe, Statuen und Monumente. An dem Tag, als Lloyd sich entschloß, Holden einen Besuch abzustatten, begann die zweite Invasion. Die Masse von Fröschen zog Tiere aus dem Umland an, auf der Suche nach Futter. London war von einer vorrückenden Armee von Schlangen und Ratten, Igeln und Reihern umgeben, die nur ein Ziel hatte: sich den Magen vollzuschlagen.

»Schreckliche Kreaturen«, murmelte Lloyd, während bei jedem seiner Schritte aufgedunsene Frösche mit einem leisen Knall explodierten. »Sie gefielen mir schon nicht, als sie noch in ihren Teichen waren, aber auf der Straße gefallen sie mir noch weniger.«

»Sie sollten mal auf ihnen schlafen«, sagte eine Obdachlose, die ihn gehört hatte. »Sie sind weich, aber auch verdammt ekelhaft.«

»Das glaube ich Ihnen gern«, antwortete Lloyd und ging schneller.

»Und sie bewegen sich!« schrie sie hinter ihm her.

Lloyd spürte kein Verlangen stehenzubleiben und mit einer stinkenden alten Pennerin zu plaudern, die in einem See von Fröschen saß. Er wollte nur zu Holdens Wohnung in Surbiton. Das Taxi, mit dem er gekommen war, hätte seinen Geist aufgegeben, als Frösche in den Motor hüpften, und ein anderes Taxi war nicht aufgetaucht, also hatte er sich gezwungen gesehen, zu Fuß zu gehen. Es war ein Witz! Am liebsten hätte er sich übergeben. Er sah, wie Soldaten versuchten, die Straßen zu reinigen, aber sie schlugen eine verlorene Schlacht.

Schließlich hatte er das Gebäude erreicht, in dem Holden wohnte. Er klingelte. Keine Antwort. Er klingelte noch einmal. Wieder keine Reaktion. Lloyd starrte die Haustür an. Dann holte er seinen Schlüsselring aus der Tasche. Er besaß einen Schlüssel zu Holdens Wohnung, falls dieser das Schloß nicht ausgewechselt hatte. Aber es sah nicht danach aus.

Lloyd hatte den Schlüssel noch nie benutzt, weil er schrecklich verwirrt gewesen wäre, wenn er ein Liebesspiel gestört hätte.

Der Schlüssel paßte noch. Lloyd trat in den schmalen Flur. Ein dicker, widerwärtiger Gestank stieg ihm in die Nase, die er sich angeekelt zuhielt. Auf dem Boden lag ein riesiger Stapel Briefe. Er stieg darüber und ging weiter.

»Hallo – jemand zu Hause?« rief er.

Aber niemand antwortete. Lloyd ging ins Wohnzimmer.

»Hallo, hallo«, rief er.

Keine Antwort. Offenbar war niemand da. Lloyd schaute sich um. Der Ort wirkte unbewohnt. Wenigstens war es den Fröschen nicht gelungen, hier einzudringen. Die Wohnung machte einen verstaubten Eindruck, als habe sich hier bereits seit einer Weile niemand aufgehalten. War Holden fortgefahren? Vielleicht war er aus irgendeinem Grund dringend nach Amerika zurückgerufen worden. Vielleicht war ein Verwandter gestorben. Aber dann hätte Lloyd ebenfalls davon gehört. Vielleicht hatte ihn der Auftrag eines Magazins an einen exotischen Ort entführt? Nun, das war wahrscheinlicher.

Aus irgendeiner Ecke drang ein schrecklicher Geruch zu ihm. Nicht nach faulenden Fröschen – den Geruch kannte Lloyd –, sondern nach etwas Schlimmeren.

Lloyd ging zum Anrufbeantworter und drückte den ›Replay‹-Knopf.

»Hallo, Holden, hier ist Lloyd, dein Onkel«, hörte er sich sagen. »Ich habe jetzt schon ein paarmal versucht, dich zu erreichen…«

Es war der Anruf, den er an diesem Morgen gemacht hatte.

Holden hätte jetzt gesagt: »Was meinst du, wie viele Menschen namens Lloyd ich kenne, Onkel? Du brauchst deinen Verwandtschaftsgrad nicht bei jedem Anruf zu erwähnen.«

Lloyd drückte auf den ›Fast-Forward‹-Knopf, dann auf ›Replay‹, um eine frühere Nachricht zu hören. Das Band war bereits einmal ganz durchgelaufen und hatte mit jeder neuen Nachricht die alten gelöscht. Holden mußte bereits seit einiger Zeit fort sein.

Lloyd sammelte die Post ein und entdeckte zwei tote Frösche zwischen den Briefen, bei denen es sich hauptsächlich um Geschäftsbriefe und Reklame handelte. Aber es waren auch ein oder zwei Schreiben aus den Staaten dabei. Das älteste war vor zwei Monaten abgeschickt worden.