Выбрать главу

Petra betrachtete ihren jüngeren Bruder zärtlich und wäre am liebsten durch das Glas gestürzt, das sie voneinander trennte, um ihn an sich zu drücken. Aber sie wollte ihn nicht ängstigen: Er hielt sie für tot. Sie hatte ihren Eltern erklärt, sie wolle nach Nigeria, um ihre Wurzeln zu suchen, bevor ihre Krankheit vollkommen von ihr Besitz ergriff. Später hatten sie dann eine Nachricht erhalten, in der stand, daß sie auf dem Weg nach Nigeria gestorben sei. Ihre Eltern waren zu arm, um ihren Leichnam zurück nach England verschiffen zu lassen, und so akzeptierten sie, daß Petra von ihnen gegangen war und pflanzten auf einem nahe gelegenen Friedhof einen Baum zu ihrem Gedenken.

Plötzlich ging die Tür auf und eine stattliche Frau trat ins Wohnzimmer, in jeder Hand eine Einkaufstasche. Ihre Mutter hatte sich kaum verändert, seit sie sie zum letzten Mal gesehen hatte. Sie gehörte zu jenen Frauen, die bereits bei der Geburt wie vierzig ausgesehen hatten und mit fünfzig immer noch so aussahen.

»Na, arbeitest du fleißig, Abby?« hörte Petra ihre Mutter fragen.

»Natürlich«, erwiderte Abby ein wenig gereizt. »Kann ich im Dunklen Fußball spielen?«

»Zuerst mußt du deine Hausaufgaben machen«, sagte seine Mutter und verschwand durch die Küchentür.

Der Junge schlug die Augen gen Himmel, als sei er als einziger auf der Welt mit Eltern geschlagen, die nicht nur beschränkt, sondern rettungslos verloren waren.

Petra lächelte und erinnerte sich an die Zeit, als sie an diesem Tisch gesessen und sich danach gesehnt hatte, mit den anderen Mädchen draußen auf der Straße zu spielen. Damals hatte sie ihre Eltern für grausam gehalten, weil sie arbeiten mußte, während andere Eltern ihre Kinder draußen herumlaufen ließen. Später hatte sie ihre Meinung geändert. Nachdem sie einen Job als Top-Model bekommen hatte, waren sie sehr stolz auf sie gewesen. Einmal hatte Petra ihre Mutter zu einem Einkaufsbummel nach Paris mitgenommen, und noch immer traten ihr Tränen in die Augen, wenn sie daran dachte, wie nahe sie sich damals gewesen waren.

Ein Mann in Arbeitskleidung betrat das Wohnzimmer. Er war hochgewachsen, ernst, und hatte eine Narbe an der linken Wange.

»Na, arbeitest du fleißig, Abby?« fragte er, faltete eine Zeitung zusammen und klemmte sie sich unter den Arm.

Der langmütige Abby schlug erneut die Augen gen Himmel und stöhnte. Er machte sich nicht die Mühe zu antworten, sondern beugte sich wieder über die Bücher. Petra hatte Mühe, mit dem Kloß in ihrer Kehle fertig zu werden. Wie ihr Vater an dem Abend, als er erfuhr, daß sie tot war, geweint hatte! Er hatte sich das Herz aus dem Leib geschluchzt. Dieser Mann, der so hart und zäh aussah wie ein Stück Schiene, war in den Armen seiner Frau zusammengebrochen und hatte ihr Kleid mit seinen Tränen durchtränkt. Jetzt wirkte er abgehärmt. Er schlurfte leicht, als er in Hausschuhen durchs Zimmer ging. Petra hatte ihren Großvater genauso herumschlurfen gesehen, bevor er am Parkinson-Syndrom erkrankte.

Ihre Mutter kam ins Wohnzimmer.

Petra schaute ihnen eine Weile nur zu und genoß es, zu sehen, wie sie miteinander umgingen. Sie waren früher eine glückliche Gemeinschaft gewesen und waren es auch jetzt – wie eine Familie sein sollte. Tief innen waren sie in natürlicher Liebe und Zuneigung miteinander verbunden. Ihr Vater hatte einst eine nigerianische Münze in vier Teile gespalten. Eine Viertelmünze trug Petra an einer Kette um den Hals. Als sie einmal mit Verdacht auf Herzstillstand in ein Krankenhaus eingeliefert worden war, hatten die Schwestern ihr die Kette abnehmen wollen, aber sie hatte sie schreiend daran gehindert. Sie konnte die Viertelmünze ihres Bruders über seinen Büchern baumeln sehen.

Wie gern wäre sie zu ihnen gegangen und hätte sie umarmt. Aber Petra war nicht länger Petra. In ihr tobte ein Konflikt, der nicht von ihr allein kontrolliert werden konnte. Man hatte ihr die Erlaubnis gegeben, ihre Familie bei ihren abendlichen Unternehmungen zu beobachten, aber mehr auch nicht. Sie durfte sich ihr nicht zeigen oder sie von ihrer Gegenwart unterrichten.

Als sie sich genug gequält hatte, glitt Petra an der Wand hinab, durchquerte den müllübersäten Hinterhof, stieg über den Zaun und ließ sich auf der anderen Seite fallen. Sie putzte sich gerade die Hände mit einem Taschentuch ab, als neben ihr eine Gestalt auftauchte. Petra holte erschrocken Luft und trat ein paar Schritte zurück.

»Was zum Teufel machen Sie da?« fragte jemand mit einem amerikanischen Akzent.

Petra schluckte. »Lieutenant Peters?« Wut verdrängte den Schrecken. »Sind Sie mir gefolgt?«

»Ja, und ich habe nicht vor, mich dafür zu entschuldigen«, sagte Dave. »Ich wollte herausfinden, auf was mein Kumpel sich da eingelassen hat…«

»Wir können hier nicht sprechen«, sagte sie, und ging an ihm vorbei auf die Nebenstraße. »Lassen Sie uns irgendwo eine Tasse Kaffee trinken.«

»Ich würde gerne wissen, ob…«

»Nicht jetzt«, fuhr sie ihn an und ging weiter.

Daves Kopf zuckte zurück, aber er folgte ihr schweigend und hielt mit ihrem Tempo Schritt, bis sie an der Hauptstraße angelangt waren. Petra winkte ein Taxi heran und stieg ein. Er setzte sich neben sie. Sie nannte dem Fahrer eine Adresse am Nordufer des Flusses. Zehn Minuten später deutete Petra auf ein Cafe an der Ecke von The Strand.

»Dort«, sagte sie beiläufig.

Als sie saßen und jeder eine Tasse Kaffee vor sich stehen hatte, sagte sie: »Nun, was wollten Sie über mich wissen? Ich bin mir nicht sicher, ob Sie überhaupt berechtigt sind, irgend etwas zu erfahren, aber wenn Sie höflich fragen, werde ich Ihnen vielleicht antworten.«

Er starrte sie mit seinen sachlichen Blick an. »Zuerst möchte ich wissen, welches Interesse Sie an Danny haben.«

»Ich dachte, das wäre offensichtlich. Ich bin in ihn verliebt. Er ist ein wunderbarer Mensch.«

»Es fällt mir schwer, das zu glauben.«

Sie warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Was? Daß Danny ein wundervoller Mensch ist?«

»Nein, daß Sie ihn dafür halten.«

Petra nippte an ihrem Kaffee und lächelte. »Sie meinen also, ich könnte jeden haben, den ich wollte, und verstehen nicht, weshalb ich mir einen kleinen, kahlen Mann mit einem Hang zu Prostituierten und zum Beichten ausgesucht habe?«

Dave hob die Augenbrauen und nickte dann langsam. »Ja, so ungefähr.«

»Nun, Lieutenant Peters, die Wahrheit ist, daß Menschen wie ich, Menschen von einer seltenen Schönheit – und ich hege in bezug darauf keine falsche Bescheidenheit – sehr oft einsam sind. Wir sind schön, aber allein, und sehnen uns wie alle anderen nach einer engen Beziehung zu jemandem, den wir als Seelengefährten betrachten. Sie können es glauben oder nicht, aber Danny und ich sind Seelengefährten. Mich kümmert es nicht im geringsten, wie er aussieht; das ist für mich nicht wichtig. Wäre mir nach einem schönen Knaben oder einem Muskelmann gewesen, hätte ich mir eines von den männlichen Models nehmen können, mit denen ich zusammenarbeitete. Aber sie waren gewöhnlich im Kopf so leer wie Schaufensterpuppen und kamen deswegen für mich nicht in Frage. Danny ist genau das Gegenteil. In seinem Kopf wimmelt es von klugen Gedanken. Nun, macht das Sinn, oder nicht?«

»Bis zu einem gewissen Grad schon, nur würde ich Danny nicht gerade als faszinierende Persönlichkeit bezeichnen.«

»Weil Sie ein Mann sind, und noch dazu nicht einmal ein sehr spiritueller Mann.«

Dave machte einen mißmutigen Eindruck. »Das nehme ich Ihnen übel.«

»Sie können es mir übelnehmen«, sagte Petra, »aber es stimmt. Verglichen mit Danny, der ein sehr spiritueller Mann ist, haben Sie in der Beziehung nur wenig zu bieten. Ihr Spitzname Mutter Teresa erscheint mir unpassend. Sie sind praktisch veranlagt, vermutlich freundlich und großzügig, und ich weiß, daß Sie intelligent und manchmal auch emotional sind: aber Sie sind nicht spirituell – wenigstens nicht sehr tief. Ich möchte nicht das Wort flach benutzen, weil es der falsche Begriff ist, aber Ihre Tiefen sind keineswegs metaphysisch.«