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Am nächsten Tag lud er seine Familie in den Wagen und fuhr sie nach Derbyshire.

KAPITEL ZWEI

Erzdiakon Lloyd Smith setzte sich abrupt im Bett auf. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die innerhalb der Square Mile wohnten: einem Distrikt, der hauptsächlich aus Banken, Finanzgebäuden, Kirchen und anderen Institutionen bestand. Etwas hatte Lloyd geweckt: Ein Gefühl des Unbehagens war in seinen Schlaf eingedrungen. Er war auf der Hut.

Die Schlafzimmervorhänge standen einen Spaltbreit offen, und der tiefe, schwarze Schatten eines mittelalterlichen Kirchturms war auf dem Boden zu sehen. Die Form des gußeisernen Filigrankreuzes auf der Turmspitze floß über die weißen Laken und wand sich in den Falten der Bettdecke. Es schien ihn verschlucken zu wollen, wie eine von Manasa Devi gesandte geflügelte Schlange. Ein finsterer Wasserspeier kämpfte darum, durch die Lücke im Vorhangs ins Zimmer zu gelangen: sein häßlicher Kopf und die schmalen Flanken kräuselten sich, wenn der Wind blies, und wurden starr und drohend, sobald es windstill war.

Normalerweise machte sich Lloyd nichts aus nächtlichen Ängsten, aber jetzt umklammerte er zitternd die Bettdecke.

Der Raum war in ein düsteres Licht getaucht. Lloyd starrte das Bild an der gegenüberliegenden Wand an – ein Druck von Botticellis Die Geburt der Venus, den er seit dem Tod seiner Frau zunehmend erotisch fand. Venus schien ihm zu gebieten, sein zerwühltes Bett zu verlassen und sich zu erheben, so wie sie selbst sich aus ihrer gefurchten Muschelschale erhob.

Weshalb war er so furchtsam? Weshalb hatte er das Gefühl, aufstehen und hinausgehen zu müssen? Weshalb spürte er diesen Schrecken, diese Ehrfurcht?

Es war kein Traum gewesen, dessen war er sich sicher.

Ein Geräusch? Nicht mehr so kräftig wie früher, begann er sich mit seinen dreiundsechzig Jahren vor Möglichkeiten wie Kämpfen mit Einbrechern zu fürchten. In letzter Zeit hatte es ein Reihe von Vergewaltigungen gegeben, bei denen Männer die Opfer waren. Lloyd fürchtete nicht so sehr die Vergewaltigung selbst – obwohl sie schlimm genug sein würde –, sondern, daß der Vergewaltiger ihn anstecken könnte. Natürlich fanden die meisten dieser Verbrechen in der U-Bahn statt, und es ging das Gerücht, daß sie von Personen verübt wurden, die nicht wirklich schwul waren. Wie bei der Vergewaltigung einer Frau, dachte er, hatten diese Vergewaltigungen weniger mit Sex als vielmehr mit der Ausübung von Macht zu tun.

Während er angestrengt lauschte, glitt Lloyd aus dem Bett und kleidete sich an. Nachdem er Unterhemd und Hose, Socken und Schuhe angezogen und seine Brille aufgesetzt hatte, öffnete er die Wohnungstür und trat auf den Flur hinaus. Er war nicht der einzige. Auch andere Bewohner des Hauses machten sich in unterschiedlichen Bekleidungszuständen auf den Weg zur Straße.

Er starrte durch das Fenster im Treppenhaus, von dem aus man die Themse sehen konnte und sah, wie die Flut hüpfte und tanzte, wobei sie seltsame kleine Wellen erzeugte. Der leuchtende Fluß führte ungewöhnlich viel Wasser, das die Straßen zu überschwemmen drohte, was dem Erzdiakon seltsam vorkam, wußte er doch, daß um diese Zeit, an diesem Tag, Ebbe herrschen sollte.

Lloyd schloß sich den Menschen auf der Straße an.

Es war sehr, sehr kalt.

Selbst während er mit den anderen ging, zitternd und befangen wegen seiner Unterwäsche, hörte Lloyd nicht auf zu denken. Was mache ich hier? Wohin gehe ich? – aber es war ihm unmöglich, nicht zu gehen, sich einfach umzudrehen und zurückzuwandern. Er war gezwungen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Die Straßen der Stadt waren voller Menschen; Menschen, die nicht alle in dieselbe Richtung gingen, aber dennoch das Viertel räumten. Es war, als sei eine Sirene losgegangen, um einen Luftangriff zu melden, oder eine Flutwarnung durchzugeben; als hätten all diese Menschen automatisch darauf reagiert. London würde von etwas Unbestimmten vernichtet werden, und alle Menschen mußten den gefährdeten Bezirk verlassen und sich zu einem sicheren Ort außerhalb begeben.

Sie gingen schweigend durch Alleen, unter Brückenbögen hindurch, schmale Straßen entlang. Es war ein Exodus, aber niemand wußte, wovor sie flohen.

Vielleicht, dachte Lloyd, ist der Tag des Heils endlich gekommen, und auf den Londoner Friedhöfen tanzen die Toten.

Als er etwa sechshundert Meter von seiner Wohnung entfernt war, drehte er sich um und schaute nach oben, und viele andere hielten es ebenso.

»Schauen Sie nur«, schrie jemand und deutete zum Himmel.

Lloyd starrte.

Es schien eine Sternschnuppe zu sein, ein Meteor, der auf die Stadt zustürzte. Lloyd machte instinktiv einen Schritt zurück und trat jemandem auf die Füße. Er drehte sich um und entschuldigte sich bei dem jungen Mann mit dem Morgenmantel aus Tweed. Er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Der Mann war zu sehr mit dem Geschehen am Himmel beschäftigt, als daß ihn ein kleiner Schmerz gekümmert hätte. Lloyd wandte seine Aufmerksamkeit wieder jenem Ding zu, das er für einen Meteor hielt; einen Meteor, der sich anschickte, seine Wohnung zu zerstören.

Das Licht am Himmel wurde heller und intensiver, je näher es der Erde kam. Die meisten Menschen mußten fortschauen, doch Lloyd trug Gläser, die auf Licht reagierten und sich bereits verdunkelt hatten. So konnte er den Flug des Meteors bis fast zum Aufprall verfolgen.

Er hätte schwören können, daß der Kern des Lichts eine Form besessen hatte – nicht nur die verschwommene Gestalt eines Felsklumpens, sondern klar gezeichnete Glieder – möglicherweise Arme und Beine, Rumpf und Kopf – obwohl er nicht sicher war. Als das Ding auf der Erde einschlug, gab es ein Geräusch wie von einer Explosion, und London ging in Flammen auf. Schließlich wurde das Licht derart hell und intensiv, daß Lloyd den Blick abwenden und in die andere Richtung schauen mußte, auf den Stadtteil Holborn mit funkelnden Fenstern. Ihm war nicht mehr kalt. Die Hitze des Feuers wärmte seinen Rücken.

»Haben Sie das gesehen?« schrie der Mann neben ihm überflüssigerweise. »Haben Sie das gesehen?«

Eine Frau, die neben dem jungen Mann im Morgenmantel stand, flüsterte: »Wunderbar.«

Lloyd wirbelte herum. Im Schein des gefallenen Sterns erkannte er, daß die Frau unglaublich schön war, und Lloyd betrachtete sich als unvoreingenommenen Richter, wenn es um weibliche Schönheit ging. Sie war exquisit: eine Gestalt aus schwarzem Opal. Sein Neffe Holden, ein Fotograf, würde sich alle zehn Finger nach einem solchen Modell ablecken. Eine ungewöhnliche Erscheinung. Anders als die übrigen in der Menge war sie vollständig bekleidet, trug aber keinen Mantel. Ihr Kleid war weiß und schlicht, so daß es ihre zarte schwarze Haut betonte. Die Haare fielen ihr wie ein Wasserfall um die bloßen Schultern. Sie war bestimmt eine äthiopische Prinzessin oder eine nubische Tempeljungfrau.

»Wie bitte?« fragte Lloyd.

»Ist es nicht wunderbar?« rief sie, während sie ihn mit ihren leuchtend braunen Augen anschaute.

»Nun, ich würde es eher als spektakulär oder seltsam bezeichnen – auf jeden Fall mit einem weniger begeisterten Adjektiv. Es ist auf dem Haus gelandet, in dem ich wohne und in dem sich all meine Besitztümer befinden, die jetzt wahrscheinlich nur noch Asche sind.«

»Oh, Sie sollten sich nicht um weltliche Dinge sorgen. Die können leicht ersetzt werden. Sie sind Zeuge eines Ereignisses geworden, worum Sie jeder, der es nicht gesehen hat, beneiden wird.«

»Und Gentlemen in Knightsbridge, nun im Bett, sollten sich getadelt fühlen, daß sie nicht waren hier«, paraphrasierte Lloyd.

»Ja. Genau«, sagte die Frau ernst. Ihr schien die Ironie entgangen zu sein.