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Und jetzt mußte alles per Hand gemacht werden, da nichts mehr funktionierte, das einen Motor hatte. Der Kühlschrank, die Waschmaschine, der elektrische Quirl, der Staubsauger. Folglich gerieten die Dinge ein wenig außer Kontrolle.

Der einzige Platz in der Wohnung, wo sie der Staub wirklich störte, war auf ihren Büchern. Und es gab überall Bücher. Sie standen in den Regalen, die fast alle Wände zierten, waren in den Zimmerecken gestapelt, auf den Fensterbänken, neben dem Bett. Dort lagen die Bücher, die gerade gelesen wurden. Daphne las stets vier oder fünf Bücher nebeneinander. Ihre Palette reichte von Romanen über Gedichtbände bis hin zu Nachschlagewerken.

Rajeb, der, bevor Daphne in sein Leben trat, kein großer Leser gewesen war, hatte sich ihr Leseverhalten angewöhnt. Da Daphne die meiste Zeit über las, brauchte Rajeb Zerstreuung. Das Fernsehprogramm war ihm zu langweilig, also begann auch er, seine Nase in Bücher zu stecken. Zugegeben, er las hauptsächlich Fantasy- oder Actionromane – am besten gefielen ihm Bücher über amerikanische Cops –, aber lesen war lesen. Daphne gehörte nicht zu den Menschen, die sich über den Geschmack anderer lustig machten.

Rajeb war auf dem Markt, um einzukaufen. Er war zu Fuß unterwegs, da seit dem Vorabend auch kein Auto mehr funktionierte. Als es um elf Uhr klingelte, dachte sie, er hätte seinen Schlüssel vergessen. Sie drückte ohne nachzudenken auf den elektrischen Türöffner. Als sie die Schritte auf der Treppe hörte, wurde ihr klar, daß es nicht Rajeb, sondern ein Fremder war. Sie öffnete die Tür und schaute ins Treppenhaus. Ein Mann kam die Stufen hoch.

»Hallo, kann ich Ihnen helfen?«

Der Mann blieb stehen und schaute hoch. »Ja. Ich möchte Rajeb Patel sprechen. Mußte die ganze Strecke bis hierher zu Fuß gehen. Bin ziemlich erschöpft.«

Daphne wollte den Fremden nicht wissen lassen, daß Rajeb außer Haus war, also fragte sie: »Wer möchte ihn sprechen?«

»Ich«, schnappte er.

»Und wer sind Sie?« fragte Daphne, die sich ein wenig unbehaglich zu fühlen begann.

»Stan Gates – Sergeant Stan Gates.«

Daphne atmete erleichtert auf, als sie den von Rajeb oft benutzten Namen hörte.

»Oh. Sie arbeiten mit Rajeb zusammen, nicht wahr?«

Gates schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »So kann man es auch ausdrücken. Ich bin sein Vorgesetzter.«

»Das habe ich damit sagen wollen. Nun, Rajeb ist im Augenblick nicht da. Möchten Sie eine Nachricht für ihn hinterlassen? Er ist gerade einkaufen gegangen.«

Gates blieb ihr die Antwort schuldig. Er stieg langsam, sehr langsam die Stufen hoch, bis er den obersten Absatz erreicht hatte. Er atmete schwer.

»Haben Sie jemals daran gedacht, in eine Erdgeschoß-Wohnung zu ziehen?« fragte er.

»Uns gefällt es hier oben; weit weg vom Betrieb und vom Verkehrslärm.«

»Ich nehme an, im Augenblick ist nicht viel Verkehrslärm zu hören, aber einiges an Betrieb. Ich könnte eine Tasse Tee vertragen.«

Daphne warf ihm einen kurzen Blick zu. Gates hatte in einem Ton gesprochen, der darauf schließen ließ, daß er etwas anderes als eine Tasse Tee meinte.

Doch als sie ihn sich näher anschaute, war er gerade in den Anblick eines Bildes an der Wand vertieft und wirkte vollkommen unschuldig.

»Also gut«, sagte sie schließlich. »Sie können hereinkommen und auf Raj warten. Er sollte in ein paar Minuten zurück sein.«

»Danke.«

Gates trat ein und schaute sich um. »Viele Bücher«, sagte er. »Dann sind Sie ein Bücherwurm?«

»Ich bin Lehrerin – ja, ich lese viel.«

»Hab’ nicht viel Zeit zum Lesen«, sagte er und sprach damit die uralte Entschuldigung dafür aus, daß man nicht das tat, was man eigentlich tun sollte.

Daphne wurde zunehmend gereizter. Er las nicht viel – na und? Vielleicht war er ein ausgezeichneter Mathematiker, der seine ganze Freizeit damit verbrachte, wunderbare Dinge mit Zahlen anzustellen. Vielleicht war er ein großer Sportler, der eines Tages an den Olympischen Spielen teilnehmen würde? Es war für das Überleben der Rasse nicht unbedingt nötig, daß jedes ihrer Mitglieder vor seinem Tod Berge von Büchern verschlang.

»Tee oder Kaffee?« fragte sie.

»Tee«, sagte Gates, »aber nicht dieses ausgeflippte Zeug –diesen Jasmin oder Lapsang Souchong-Tee, oder was auch immer ihr trinkt.«

»Warum sollte ich Ihnen so etwas anbieten?«

Er lächelte verschlagen. »Nun, wie Sie wissen, ist Rajeb Inder, oder? Wahrscheinlich trinkt er die ganze Zeit diesen parfümierten Mist.«

Daphne versteifte sich. »Erstens ist Rajeb Brite. Das sollten Sie wissen. Zweitens sind Jasmin und Lapsang Souchong chinesische Tees. Und drittens haben wir sowieso nur Frühstückstee im Haus.«

»Ja, genau«, sagte Gates, der eine dicke Haut zu haben schien, mit einem Lächeln. »Frühstückstee ist normaler Tee, oder?«

Daphne zog sich in die winzige Küche zurück. Sie schäumte vor Wut. Wie konnte Rajeb mit einem solchen Idioten arbeiten? Er hatte immer bewundernd von Gates gesprochen. Rajeb konnte unmöglich eine so schlechte Menschenkenntnis haben. Sie kochte den Tee und trug ihn ins Wohnzimmer. Gates war nicht zu sehen. Plötzlich hörte sie hinter sich ein Geräusch. Als sie sich umdrehte, sah sie Gates im Türrahmen zum Schlafzimmer stehen. Offensichtlich hatte er sich dort umgeschaut. Er schnüffelte ostentativ. »Ich mag Schlafzimmergerüche. Sie auch?«

Daphne lief es kalt den Rücken hinunter. Sie wünschte, daß Rajeb endlich nach Hause käme. Sie wollte ihn in der Nähe haben. Dieser Stan Gates war nicht der Mann, für den Rajeb ihn hielt. Etwas Verderbtes steckte in ihm. Daphne spürte es, allein durch seine Nähe.

»Kommen Sie, setzen Sie sich«, sagte sie so unbeschwert wie möglich. »Hier ist Ihr Tee.«

»Eigentlich bin ich nicht durstig«, sagte Gates. »Ich würde lieber was anderes tun.« Er starrte sie bedeutungsvoll an.

Diesmal war es unmißverständlich.

Sie sagte kühl, wobei sie ihre Nervosität zu verbergen suchte: »Tut mir leid. Ich kann nur einen Mann lieben. Raj…«

Gates Gesicht veränderte sich. Er trat einen Schritt vor und fuhr sie an: »Raj? Raj? Was ist mit ihm? Ich scheiß auf Raj. Ich weiß nur, daß ich das hier habe«, er deutete auf die Ausbuchtung in seiner Hose, »und daß ich es loswerden will. Na, wie gefällt dir das?«

Trotz ihrer Angst stürzte Daphne in die Küche und schnappte sich ein Tranchiermesser, das sie wie einen Dolch hielt. Sie wußte nicht, ob sie jemanden erstechen konnte – sie hatte noch nie darüber nachgedacht. Der Griff nach dem Messer war eine reine Reflexhandlung gewesen. Aber sie wußte, daß sie aggressiv, nicht unterwürfig sein mußte.

»Komm mir nicht zu nahe«, schrie sie. »Bleib mir vom Leib, oder ich schneide dir deine verfluchten Eier ab!«

Er hielt inne, zuckte mit den Schultern und grinste sie an. »Bist ja richtig feurig? Gut, du wirst noch ein wenig mehr Feuer kriegen. Leg das Ding hin oder ich ramm’ es dir in den Arsch.«

Daphne fühlte sich schwach. Sie hielt sich am Herdrand fest und wünschte sich, es stünde ein Topf mit kochendem Wasser darauf, den sie ihm ins Gesicht schütten könnte. Sie wollte schreien, war frustriert und ängstlich, weil sie so hilflos war. Er wirkte stark, und sie wußte, daß sie kaum eine Chance hatte, wenn er näher kam. Sie konnte versuchen, ihn zu erstechen, aber das war nicht so einfach, wie es in den Filmen aussah. Darüber hinaus hatte er eine dicke Jacke an. Ob das Messer überhaupt durch den Stoff dringen würde?