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Als Stan Gates Holden Xavier in Asche verwandelte, hatte Manovitch in der Sekunde vor dem Aufprall des Projektils einen anderen Körper übernommen, und ein leerer Körper war brennend vom Dach in die Gasse gefallen. Dabei hatte Manovitch seine Lektion gelernt und den Verstand seines neuen Opfers nicht sofort zerstört und die Hülle übernommen. Statt dessen hielt er sich die meiste Zeit über zurück, zog hier und da an paar Fäden, und beeinträchtigte Stan Gates’ Lebensweise und seine Persönlichkeit nicht übermäßig stark. Aus dieser distanzierten Position heraus konnte er alle und alles beobachten und dennoch verborgen bleiben, selbst vor den Sondierungen des Erzengels und seiner Agenten. Gates gab ein ausgezeichnetes Versteck ab. Falls nötig, konnte Manovitch den ganzen Körper übernehmen und Gates in einen der niederen Bereiche seines Großhirns drängen.

Manovitch war nicht ungeduldig darüber, daß sich die Dinge so langsam entwickelten. Aber wie ihm klar war, wurde es um so wahrscheinlicher, daß etwas falsch lief und sich gegen ihn richtete, je länger er Spitz im Verlies gefangen hielt. Er hätte sich bei dem Zusammenstoß in Patels Wohnung, als die Lust ihn unvorsichtig hatte werden lassen, um ein Haar verraten. Und Peters wußte bereits, daß Spitz noch lebte. Er hatte gehofft, ab sofort als Peters Fahrer zu fungieren, aber dieser Idiot Patel hatte seinen Plan zunichte gemacht.

In dieser Hinsicht mußte bald etwas unternommen werden, sehr bald.

Wenn Patel plötzlich stürbe, würden eine Menge Gerüchte durch die Luft schwirren. Und das konnte er sich nicht leisten. Er wußte, wie verletzlich er in einem menschlichen Körper war. Er konnte Gates nicht so schnell verlassen wie Xavier. Einen Körper nicht vollständig zu besitzen, bedeutete, daß die Bewegungen seiner toten Seele langsamer und nicht so leicht zu kontrollieren waren. Erst wenn er Stan Gates zerstört hatte, könnte er in einen anderen in der Nähe befindlichen Körper überwechseln.

Manovitch hatte den Torbogen mit dem Eisentor erreicht. Er betrat den zeitweilig verlassenen Tower of London, indem er über den St. Thomas Tower mit dem Traitor’s Gate kletterte.

Manovitch hatte Gates’ Gehirn erkundet, um sich ein genaues Bild von diesem Ort zu machen. Es war für seine Sicherheit und seinen Schutz notwendig, daß er die Gebäude innerhalb der Towermauern identifizieren konnte und wußte, wo was lag. Gates hatte bei zahllosen Gelegenheiten Besuchern den Tower gezeigt und kannte sich dort sehr gut aus. Er war stets der Meinung gewesen, man solle den Komplex die Towers von London nennen, da er aus über einem Dutzend Gebäuden bestand.

Manovitch hatte Gates’ Wissen benutzt, um die sternförmige Steinkammer zu finden, deren Deckengewölbe in der Dunkelheit verschwand. Dort hielt er seinen Gefangenen. Danny Spitz hing in Ketten an der feuchten Wand unter einem kreuzförmigen Fenster.

Manovitch war auf dem Weg zu Dannys Zelle. Als er näher kam, hörte er einen Menschen mit monotoner, tiefer Stimme immer wieder die gleiche Litanei singen. Neugierig blieb er stehen und lauschte.

Jemand psalmodierte:

Manovitch

is a son-of-a-bitch

Die Worte wurden wieder und wieder gekrächzt, wie ein Mantra, und nur gelegentlich von den Worten unterbrochen:

Danny Spitz Lives at the Ritz

Friar Tuck

Needs a damn good fuck

Manovitch lächelte. Sein Opfer war dabei, verrückt zu werden. Danny Spitz verlor den Verstand.

Als die tote Seele in die Kammer kam, sah sie eine knochige, schmutzige Gestalt an Ketten hängen. Bruder Tuck war es gelungen, sich herumzudrehen, so daß er jetzt mit gekreuzten Ketten der Wand den Rücken kehrte. Die hervortretenden Augen in dem schmalen Gesicht mit den rissigen Lippen starrten Manovitch an. Schultern und Rücken waren voller Beulen. Selbst gefesselte Gefangene, die in Verliesen dahinsiechten, waren nicht immun gegen die Plage, als hätten sie nicht schon genug Entzündungen und offene Wunden. Insekten krabbelten in seinen Hautfalten, dem struppigen Bart, dem wirren Haar und um seine Genitalien herum. Er schien eine permanente Erektion zu haben. Aber das hatte wohl mehr mit dem Hunger als mit Lust zu tun.

Als Manovitch näher kam, urinierte Danny. Doch leider war seine Blase zu schwach, um sein Ziel zu erreichen.

»Netter Versuch«, schnaubte Manovitch. »Bist du jetzt ein Dichter, Boy? Ich habe gehört, wie du Kinderreime gesungen hast.«

Manovitch

Is a son-of-a-bitch

brummte Danny. Seine vor Hunger glänzenden Augen waren wie zwei Kerzenflammen.

»Sehr gut, sehr gut«, lächelte Manovitch. »Robert Frost läßt grüßen. Ich habe dir etwas zu Essen mitgebracht.«

Manovitch holte ein paar durchgeweichte Brotkrusten aus der Tasche, mit denen er sein Opfer fütterte. Danny, obwohl voller Haß, war zu krank, um das Essen zurückzuweisen. Er saugte es auf und schluckte es, genauso, wie er es mit den Kakerlaken machte, die er mit den Zähnen von seinen Schultern klaubte und mit großem Vergnügen kaute, wobei er sich das Eiweiß schmecken ließ. Wenn man verhungert, ißt man alles: Dreck, Läuse, uralten Mörtel, Käfer, Fliegen. Alles.

Dannys Beine, die Wand, der Boden; seine ganze Umgebung war voller Exkremente, die Zeugnis von seiner Ruhr ablegten. Danny starb sehr langsam, hielt sich nur noch mit seinen kleinen Mantras am Leben und hoffte, daß irgendwann einmal jemand anderer als Stan Gates in die Zelle treten würde.

Als Danny die letzte Kruste geschluckt hatte, gab Manovitch ihm etwas zu trinken. Es war in seinem Interesse, Spitz so lange am Leben zu halten, bis sein Freund Peters sehen konnte, wie sehr er gelitten hatte. Er würde Peters’ Vorbild sein, sobald er den großen Cop in den Händen hatte.

Manovitch wußte, daß Danny immer noch einen Funken Hoffnung in seiner Brust hegte, und war entschlossen, ihn auszulöschen. Während Danny ihn anstarrte, erlaubte er Stan Gates, zum Vorschein zu kommen.

Gates starrte wild um sich, als er sich an einem vom Mond erleuchteten Ort aus feuchten Steinen wiederfand. Wo war er? In einer stinkenden Gruft? Seine Kleider waren ebenfalls feucht. Ein schrecklicher, übelkeiterregender Geruch ließ ihn würgen. Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, als er sich fragte, ob er scheintot gewesen war und man ihn lebendig eingemauert hatte – eine seiner größten und geheimsten Ängste. Der Geruch des Todes umgab die glatte Wand und den glitschigen Boden.

Vor ihm bewegte sich etwas – es war mehr wie das Zittern eines Leinentuchs im Wind. Erst jetzt sah Gates die Kreatur an der Wand. Eine ausgemergelte Gestalt mit hervorstehenden Rippen und dünnen Armen und Beinen. Fiebrige Augen brannten in ihrem Gesicht. Die rissigen Lippen bewegten sich, als die Kreatur leise stöhnte.

»Ahhhhhh!« schrie Gates und taumelte entsetzt zurück. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Er hatte einen Klumpen in der Kehle, so groß wie ein Apfel. Gates wußte, daß es die Angst war, die ihn ersticken würde, wenn er seinem Verstand erlaubte, sich zurückzuziehen. Er keuchte vor Anstrengung bei dem Versuch, rational zu denken.

Als er seine Stimme wiedergefunden hatte, schrie er: »Wo bin ich, verdammt noch mal? Und wer bist du? Was ist hier los?«

Danny starrte Gates an. Er spürte, daß so etwas wie eine Transformation stattgefunden hatte. Die Stimme, die Gesten, Gates’ ganzes Auftreten war anders. Die Verrücktheit war verschwunden, und der normale Mann war aufgetaucht.

»Ich bin’s«, krächzte Danny. »Danny Spitz.«

»Spitz?« schrie Gates. »Jesus Christus, was ist mit Ihnen passiert?«

»Manovitch«, stöhnte Danny. »Er hält mich hier gefangen.«

Gates trat ein paar Schritte vor und untersuchte nervös die Ketten, die Danny an der Wand hielten. Er stellte fest, daß die Glieder erst aufgebogen und dann wieder zusammengepreßt worden waren. Nach einem verbissenen Versuch, sie mit bloßen Händen auseinanderzuziehen, gab er auf. Er schaute sich nach einem Werkzeug um, mit dem er sie aufstemmen konnte.