Sie hatten den umliegenden Landstrich durchkämmt und beugten sich nun in Richtung Hasic. Obwohl von mehr als einem der jüngeren Ritter angemerkt worden war, dass sich Rhonin wahrscheinlich seiner Magie bedient habe, um sich an seinen Zielort zu versetzen, war Duncan Senturus' Meinung, was die Fähigkeiten des Zauberers betraf, offenkundig nicht hoch genug, um dem Glauben zu schenken. Er war der leidenschaftlichen Überzeugung, dass es ihnen möglich sein würde, den verbrecherischen Magier zu finden und an ihm Gerechtigkeit zu üben.
Als der Tag zur Neige ging und die Sonne zu sinken begann, beschlichen sogar Vereesa erste Zweifel an Rhonins Unschuld. Hatte er die Katastrophe vielleicht doch verursacht und war anschließend vom Ort der feigen Tat geflohen?
»Wir werden bald unser Lager aufschlagen«, verkündete Lord Senturus einige Zeit später. Er betrachtete den dichter werdenden Wald. »Auch wenn ich keinen Ärger erwarte, bringt es uns doch nichts, durch die Dunkelheit zu streifen und dabei womöglich die Beute zu verpassen, obwohl sie sich ganz nah verbirgt.«
Mit einem weit besseren Sehvermögen ausgestattet als ihre Gefährten, zog Vereesa in Betracht, alleine weiterzusuchen, besann sich dann aber eines Besseren. Wenn die Ritter der Silbernen Hand Rhonin in ihrer Abwesenheit fanden, standen die Chancen des Zauberers ziemlich schlecht.
Sie ritten noch eine Weile weiter, ohne eine Spur zu entdecken. Die Sonne war hinter dem Horizont versunken und hinterließ nur einen Hauch von Licht, der ihren Weg erhellte. Wie angekündigt, gab Duncan merklich widerwillig die Losung aus, eine vorübergehende Unterbrechung ihrer Suche einzulegen. Er befahl seinen Rittern, umgehend ein Lager zu errichten. Vereesa saß ab, doch ihre Augen fuhren fort, die Umgebung zu sondieren, und wider alle Vernunft hoffte sie, dass sich der hitzköpfige Zauberer bemerkbar machen würde.
»Er ist hier nirgendwo, Lady Vereesa.«
Sie drehte sich um und blickte zum Anführer der Paladine auf dem einzigen Mann unter den Verfolgern, der groß genug war, ihr solch eine Haltung abzunötigen. »Ich kann nicht aufhören, Ausschau zu halten, Mylord.«
»Wir werden diesen Schurken schon früh genug finden.«
»Wir sollten uns zuerst seine Version der Geschichte anhören, Lord Senturus. Das erscheint mir nur angemessen.«
Die in voller Rüstung vor ihr stehende Gestalt zuckte mit den Schultern, als würde dies für sie keinerlei Unterschied machen. »Er wird natürlich die Möglichkeit erhalten, Buße zu tun.«
Was nichts anderes hieß, als dass sie Rhonin entweder in Ketten zurückschleifen oder auf der Stelle hinrichten würden. Die Ritter der Silbernen Hand mochten ein heiliger Orden sein, aber sie waren ebenso bekannt für ihre Pragmatik bei der Ausübung von Gerechtigkeit.
Vereesa entschuldigte sich beim Hauptmann der Paladine, nicht sicher, ob sie ihm gegenüber, was diesen Punkt anging, sonst noch lange ihre Zunge hätte im Zaum halten können. Sie brachte ihr Pferd zu einem Baum am Rande des Lagerplatzes, dann tauchte sie zwischen die Bäume. Hinter ihr verstummten die Geräusche des Lagers, während die Elfe tiefer in ihre ureigene Welt eindrang.
Erneut verspürte sie die Versuchung, die Suche allein fortzusetzen. Es war so einfach für sie, geschmeidig durch den Wald zu huschen und die Klüfte oder Dickichte zu finden, die einen Leichnam verbergen mochten.
»Du bist immer darauf aus, dich davonzustehlen und die Dinge auf deine eigene, unnachahmliche Weise anzupacken, nicht wahr, Vereesa?«, hatte ihr erster Lehrer eines Tages, kurz nach ihrer Aufnahme in das besondere Ausbildungsprogramm für Waldläufer, bemerkt. Nur die Besten wurden für dazu berufen. »So voller Ungeduld hättest du wahrlich als Mensch geboren werden können. Mach nur so weiter und du wirst nicht lange unter Waldläufern weilen …« Doch entgegen aller Zweifel, die mehr als einer ihrer Ausbilder zum Ausdruck gebracht hatten, war es Vereesa gelungen, sich durchzusetzen und schließlich zu einer der Besten ihres erlauchten Kreises aufzusteigen. Sie konnte, was sie gelernt hatte, nicht einfach zunichte machen, indem sie jetzt leichtsinnig wurde.
So gab sie sich selbst das Versprechen, nach einigen Minuten der Erholung zu den anderen zurückzukehren. Die silberhaarige Waldläuferin kletterte auf einen der Bäume und atmete tief aus. So ein einfacher Auftrag, und dennoch war er nicht nur einmal, sondern bereits zum zweiten Mal fast gescheitert. Wenn sie Rhonin nicht wiederfand, musste sie sich etwas einfallen lassen, das sie ihren Herren erzählen konnte – ganz zu schweigen von den Kirin Tor von Dalaran. Sie selbst musste sich keine Fehler anlasten, aber …
Ein plötzlicher Windstoß warf Vereesa fast von dem Baum, auf dem sie sich niedergelassen hatte. Die Elfe schaffte es im letzten Moment, sich doch noch festzuhalten. Aus der Ferne waren die erregten Rufe der Ritter zu hören und das wilde Klappern loser Gegenstände, die durcheinander gewirbelt wurden.
So schnell der Wind aufgekommen war, so unvermittelt erstarb er auch wieder. Vereesa schob sich das zerzauste Haar aus dem Gesicht und eilte zurück zum Lager. Sie fürchtete, dass Duncan und die anderen von etwas Schrecklichem angegriffen worden seien, ähnlich dem Drachen zu Beginn dieses Tages. Zu ihrer Erleichterung hörte die Waldläuferin jedoch schon im Näherkommen, wie die Paladine die Aufräumarbeiten im Lager kommentierten, und als sie den Platz erreichte, sah Vereesa, dass, abgesehen von verstreut herumliegenden Schlafsäcken und anderen Dingen, niemand großartig zu Schaden gekommen zu sein schien.
Lord Senturus schritt auf sie zu, den Blick voller Sorge. »Geht es Euch gut, Mylady? Seid Ihr unverletzt?«
»Ja. Der Wind überraschte mich, das ist alles.«
»Er überraschte jeden.« Er rieb sich das bärtige Kinn und starrte in den dunkler werdenden Wald. »Ich würde sagen, kein normaler Wind wütet auf diese Art …« Er wandte sich an einen seiner Männer. »Roland, verdoppele die Wachen! Das mag noch nicht das Ende dieses besonderen Sturms sein.«
»Jawohl, Mylord!«, rief ein schlanker blasser Ritter zurück. »Christoff! Jakob! Bewegt …«
Seine Stimme brach mit solcher Abruptheit ab, dass beide – Duncan, der sich erneut der Elfe zugewandt hatte, und Vereesa selbst – aufblickten, um zu schauen, ob der Mann plötzlich von einem Pfeil oder Armbrustbolzen niedergestreckt worden war. Stattdessen fanden sie ihn auf ein dunkles Bündel starrend, das zwischen den Schlafsäcken lag, ein dunkles Bündel mit ausgestreckten Beinen, die Arme über der Brust gekreuzt, fast wie ein Toter.
Ein dunkles Bündel, das sich schließlich als Rhonin entpuppte.
Vereesa und die Ritter versammelten sich um ihn, einer der Männer mit einer Fackel in der Hand. Die Elfe kniete nieder, um den Körper zu untersuchen. Im unsteten Licht der Fackel sah Rhonin bleich und starr aus, und zunächst konnte sie nicht sagen, ob er noch atmete. Vereesa berührte seine Wange …
… und zum Erschrecken aller riss der Magier die Augen auf.
»Waldläuferin … wie schön … Euch wiederzusehen …« Und damit fielen ihm erneut die Augen zu. Er sank in einen tiefen Schlaf.
»Närrischer Zauberer!«, fluchte Duncan Senturus. »Erst verschwindet Ihr, nachdem gute Männer gestorben sind, und dann glaubt Ihr, einfach wieder in unserer Mitte erscheinen und Euch schlafen legen zu können!« Er fasste nach dem Arm des Zauberers, in der Absicht Rhonin wachzurütteln, stieß jedoch einen überraschten Schrei aus, als seine Finger das dunkle Hindernis berührten. Der Paladin starrte auf seine gepanzerte Hand, als wäre er gerade von etwas gebissen worden. Dann knurrte er: »Irgendeine Art teuflischen, unsichtbaren Feuers umgibt ihn! Selbst durch den Handschuh hindurch fühlte es sich an, als berührte ich glühende Kohlen!«
Trotz seiner Warnung wollte sich Vereesa hiervon selbst überzeugen. Tatsächlich verspürte sie ein gewisses Unwohlsein, als ihre Finger Rhonins Kleider berührten, aber nichts, was der Intensität entsprach, die Lord Senturus beschrieben hatte. Nichtsdestoweniger zog die Waldläuferin ihre Hand zurück und nickte bestätigend. Sie sah im Augenblick keinen Grund, den Hauptmann der Paladine auf den Unterschied hinzuweisen.