Hinter sich vernahm Vereesa das Geräusch von Stahl, der aus einer Scheide fuhr. Rasch blickte sie zu Duncan empor, der dem entsprechenden Ritter bereits mit einem Kopfschütteln Einhalt gebot. »Nein, Wexford, ein Ritter der Silbernen Hand wird niemanden abschlachten, der sich nicht wehren kann. Dieser Makel auf unserem Gelübde wäre zu groß. Ich denke, wir werden für diese Nacht Wachen aufstellen und sehen dann morgen, was mit unserem Zauber geschieht.« Lord Senturus' wettergegerbtes Gesicht nahm grimmige Züge an. »Und auf die eine oder andere Weise wird der Gerechtigkeit Genüge getan werden, sobald er aufwacht.«
»Ich werde bei ihm bleiben«, erklärte Vereesa. »Sonst wird niemand nötig sein.«
»Vergebt mir, Mylady, aber Eure Verbundenheit mit …«
Sie richtete sich auf und blickte dem Hauptmann der Paladine in die Augen. »Ihr stellt das Wort eines Waldläufers in Frage, Lord Senturus? Ihr stellt mein Wort in Frage? Glaubt Ihr ich würde ihm helfen, sich erneut aus dem Staub zu machen?«
»Natürlich nicht!« Duncan zuckte mit den Schultern.
»Schön, wenn es das ist, was Ihr wollt, so soll es sein. Ihr habt meine Erlaubnis. Doch die ganze Nacht ohne Schlaf zu verbringen …«
»Lasst das meine Sorge sein. Würdet Ihr weniger tun für jemanden in Eurer Obhut?«
Damit hatte Vereesa ihn. Lord Senturus schüttelte nur noch den Kopf, ehe er sich zu den anderen Kriegern begab und begann, ihnen Befehle zu erteilen. Kurze Zeit später waren die Waldläuferin und der Zauberer allein in der Mitte des Lagers. Rhonin lag, wie er gefallen war, auf zwei Schlafsäcken. Die Ritter waren sich nicht sicher gewesen, wie man ihn hätte von dort wegrücken können, ohne sich zu verbrennen.
Vereesa untersuchte den schlafenden Mann, so gut sie konnte, ohne ihn erneut zu berühren. Rhonins Umhang war an einigen Stellen zerrissen, und in seinem Gesicht zeigten sich winzige Kratzer und Abschürfungen, ansonsten schien er heil. Seine Miene wirkte jedoch erschöpft, als lägen große Anstrengungen hinter ihm.
Vielleicht lag es an der Dunkelheit, in der sie ihn betrachtete, jedenfalls fand Vereesa, dass der Mensch vor ihr auf einmal sehr viel verletzlicher wirkte als sonst, fast … liebenswert. Die Elfe musste auch zugeben, dass er durchaus gut aussehend war, wenngleich sie jeden weiteren Gedanken in dieser Richtung rasch von sich schob. Vereesa überlegte, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, dem bewusstlosen Magier seine Lage etwas angenehmer zu gestalten, doch der einzige Weg, dies zu tun, hätte den anderen verraten, dass sie ihn ohne Probleme berühren konnte. Dies wiederum hätte Lord Senturus wahrscheinlich ermutigt, sie aufzufordern, Rhonin in Fesseln zu legen – was ihrer Verbundenheit mit dem Magier eindeutig zuwider lief.
Vereesa ließ sich, ohne etwas zu unternehmen, neben dem schlaffen Körper nieder und suchte die Umgebung mit ihren scharfen Blicken nach einer möglichen Bedrohung ab. Noch immer fand sie Rhonins unvermitteltes Auftauchen äußerst seltsam und, obgleich er nichts über die Hintergründe preisgegeben hatte, war Duncan zweifellos derselben Meinung. Rhonin erweckte kaum den Anschein, als wäre er imstande, sich aus eigener Kraft in die Mitte ihres Lagers zu versetzen. Einerseits hätte dies erklärt, warum er nun in einem komagleichen Erschöpfungsschlaf lag, doch andererseits fühlte es sich einfach nicht stimmig an. Auf Vereesa wirkte er vielmehr wie ein Mann, der entführt worden und dann von seinem Entführer fallen gelassen worden war, nachdem dieser ihm angetan hatte, was auch immer seine Absicht gewesen war.
Die einzige Frage, die blieb, war: Wer konnte eine so unglaubliche Tat vollbringen … und warum?
Er erwachte im Bewusstsein, dass alle gegen ihn waren.
Nun gut, vielleicht nicht alle. Rhonin war sich nicht ganz sicher, wie sein Stand bei der elfischen Waldläuferin war – vorausgesetzt, er konnte sich überhaupt auf den Beinen halten …
Im Grunde musste ihr Schwur, ihn sicher nach Hasic zu bringen, sie dazu anhalten, ihn gegen die frommen Ritter zu verteidigen, aber man konnte nie wissen. Es hatte einen Elfen in seiner letzten Reisegemeinschaft gegeben, einen älteren Waldläufer, Vereesa nicht unähnlich. Dieser Waldläufer hatte den Zauberer jedoch ziemlich genau in der Art behandelt, wie Duncan Senturus es nun tat, wenngleich er sich weit weniger Zurückhaltung auferlegt hatte, als der ältere Paladin.
Rhonin atmete vorsichtig aus, um niemanden darauf aufmerksam zu machen, dass er das Bewusstsein zurückerlangt hatte. Es gab nur einen Weg, herauszufinden, in welcher Lage er sich befand, aber er benötigte noch einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. Zu den ersten Fragen, die man ihm stellen würde, gehörte mit Sicherheit, was er mit der Explosion zu tun hatte – und was ihm im Anschluss daran widerfahren war. Was Ersteres betraf, konnte sich der geschwächte Zauberer die Antwort selbst geben, das Letztere betreffend, war er jedoch so klug wie alle anderen.
Er konnte es nicht länger hinausschieben. Rhonin nahm einen weiteren Atemzug, dann streckte er sich, als erwache er gerade.
Neben ihm entstand eine schwache Bewegung.
Wie beiläufig öffnete der Magier die Augen und sah sich um. Zu seiner Erleichterung und – wie er sich eingestehen musste – Freude, füllte Vereesas Erscheinung sein gesamtes unmittelbares Blickfeld aus. Die Waldläuferin wirkte besorgt, beugte sich vor und schaute ihn aus leuchtend himmelblauen Augen an. Diese Augen passen sehr gut zu ihr, dachte er für einen Augenblick … dann ließ er den Gedanken wieder fallen, zumal das Geräusch klirrenden Metalls ihn ablenkte und darauf aufmerksam machte, dass nun auch die anderen sein Erwachen bemerkt hatten.
»Ist er wieder unter den Lebenden?«, grollte Lord Senturus' Stimme. »Wollen sehen, wie lange das so bleibt …«
Die schlanke Elfe kam sofort auf die Beine und stellte sich dem Paladin in den Weg. »Er hat gerade erst die Augen geöffnet! Gebt ihm Zeit, zu sich zu kommen und wenigstens etwas zu essen, bevor Ihr ihn befragt!«
»Ich werde ihm seine Grundrechte nicht verweigern, Mylady, aber er wird die Fragen während des Essens beantworten und nicht erst danach.«
Rhonin hatte sich gerade weit genug aufgerichtet und auf die Ellbogen gestützt, um Duncans drohendes Gesicht erkennen zu können. Ihm war klar, dass der Ritter der Silbernen Hand ihn für einen Verräter, vielleicht sogar Mörder halten musste. Der geschwächte Magier erinnerte sich an den unglücklichen Wachmann, der zu Tode gestürzt war, und es war möglich, dass es nicht bei diesem einen Opfer geblieben war. Zweifellos hatte irgendjemand Rhonins Anwesenheit auf der Mauer gemeldet und zusammen mit den Vorurteilen, die der heilige Orden ohnehin gegen ihn hegte, hatte dies genügt, die falschen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Er wollte nicht gegen sie kämpfen. In seiner Verfassung würden ihm bestenfalls ein, zwei einfache Formeln über die Zunge kommen … Dennoch, wenn sie danach trachteten, ihn für das zu bestrafen, was bei dem Wachturm geschehen war, würde er sich verteidigen müssen.
»Ich werde antworten, so gut ich kann«, erwiderte der Rhonin, Vereesas Hilfe ablehnend, als er sich mühsam hochrappelte. »Aber, vollkommen richtig, nur mit etwas zu essen und zu trinken.«
Die normalerweise fad schmeckenden Vorräte der Ritter mundeten Rhonin in seinem Zustand gleich vom ersten Bissen an wie Delikatessen. Selbst das schale Wasser aus einer der Trinkflaschen schmeckte süßer als Wein. Rhonin erkannte plötzlich, dass sich sein Körper anfühlte, als habe er mindestens eine Woche gehungert. Er aß mit Genuss, mit Hingabe und wenig Rücksicht auf gute Manieren. Einige der Ritter beobachteten ihn belustigt, andere, vor allem Duncan, voller Abscheu.
Gerade als Hunger und Durst nachzulassen begannen, fing die Befragung an. Lord Senturus setzte sich mit Augen, in denen bereits das Urteil über den Zauberer feststand, vor ihn hin und grollte: »Die Zeit Eures Geständnisses ist gekommen, Rhonin Redhair! Ihr habt Euch den Bauch voll geschlagen, jetzt erleichtert Eure Seele von der Bürde der Sünde. Berichtet uns von Eurer Missetat oben auf dem Burgfried …«