König Terenas von Lordaeron lächelte seinem jungen Schützling kurz zu, der nicht die geringste Ahnung von der großen Ehre haben konnte, die er ihm zuteil werden sollte. Ja, er war der perfekte Mann für diese Rolle. Mit Prestor an der Spitze von Alterac, würde die Zukunft der Allianz gesichert sein.
Und dann konnten sie beginnen, sich um diese verräterischen Zauberer in Dalaran zu kümmern.
»Das ist nicht in Ordnung!«, brach es aus dem schwergewichtigen Magier hervor. »Sie hatten keinen Grund, uns außen vor zu belassen!«
»Nein, den hatten sie nicht«, gab die ältere Frau zurück. »Aber sie haben es getan.«
Die Magier, die bereits früher in der Halle der Luft zusammengekommen waren, hatten sich erneut dort eingefunden, diesmal jedoch nur zu fünft. Der eine, den Rhonin als Krasus kannte, hatte seinen Platz innerhalb des magischen Kreises nicht eingenommen, doch die Übrigen waren zu sehr über die Ereignisse in der äußeren Welt besorgt, um sein Erscheinen abzuwarten. Die Könige der Normalsterblichen hatten sich hinter verschlossenen Türen getroffen, um eine gewichtige Angelegenheit ohne den lenkenden Einfluss der Kirin Tor zu besprechen. Auch wenn die meisten, die dem Rat angehörten, König Terenas und die anderen Monarchen respektierten, verstörte es sie doch, dass der Herrscher von Lordaeron eine solch beispiellose Versammlung einberufen hatte. Bei vorausgegangenen Treffen war stets ein Angehöriger des Inneren Rates der Kirin Tor mit anwesend gewesen. Dies war nur rechtens, nahm doch Dalaran immer einen ersten Rang unter den Streitkräften der Allianz ein.
Die Zeiten schienen sich zu ändern.
»Das Alterac-Dilemma hätte schon vor langer Zeit gelöst werden können«, bemerkte der Elfenmagier. »Wir hätten auf den Anteil an den Entwicklungen bestehen sollen, der uns zusteht.«
»Und damit einen weiteren Zwischenfall provozieren sollen?«, dröhnte die Stimme des Bärtigen mit aller Schärfe. »Ist Euch entgangen, wie sehr sich die anderen Reiche in letzter Zeit von uns zurückgezogen haben? Es scheint fast so, als fürchteten sie uns, seit die Orks nach Grim Batol getrieben wurden!«
»Lächerlich! Die Normalsterblichen standen der Magie stets misstrauisch gegenüber, aber niemand stellt unsere Loyalität in der Sache in Zweifel!«
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. »Wann war dies je von Bedeutung für jene, die unsere Kräfte fürchten? Jetzt, da die Ork-Horde zerschlagen wurde, beginnt das Volk zu erkennen, dass wir nicht sind wie es – dass wir ihm überlegen sind in jeglicher Hinsicht …«
»Eine gefährliche Art zu denken, selbst für uns«, erklang die ruhige Stimme von Krasus. Der gesichtslose Zauberer stand urplötzlich an seinem vorbestimmten Platz.
»Ihr seid gerade noch rechtzeitig eingetroffen!« Der bärtige Zauberer wandte sich dem Neuankömmling zu. »Habt Ihr etwas herausfinden können?«
»Sehr wenig. Das Treffen war nicht abgeschirmt … doch alles, was wir in Erfahrung bringen konnten, waren oberflächliche Gedanken. Diese enthüllten uns nichts, was wir nicht ohnehin schon wussten. Ich musste schließlich auf andere Methoden zurückgreifen, um wenigstens einen gewissen Erfolg zu erzielen.«
Die jüngere Frau wagte es einzuwerfen: »Haben sie eine Entscheidung getroffen?«
Krasus zögerte, dann hob er seine behandschuhte Hand. »Seht selbst …«
Im Zentrum der Halle, unmittelbar über dem in den Boden eingelassenen Symbol, erschien eine hoch gewachsene, menschliche Gestalt. Sie wirkte vollkommen real, fast realer als die anwesenden Zauberer. Von majestätischer Haltung, gekleidet in ein elegantes dunkles Gewand und mit markanten, gut aussehenden Zügen, ließ sie die Sechs einen Moment verstummen.
»Wer ist das?«, fragte dieselbe Frau.
Krasus überblickte die anderen Angehörigen seiner Zunft, bevor er antwortete: »Hoch lebe der neue Herrscher von Alterac, König Prestor der Erste.«
»Was?«
»Das ist unerhört!«
»Das können sie nicht ohne uns entscheiden – oder?«
»Wer ist dieser Prestor?«
Rhonins Gönner zuckte mit den Schultern. »Ein kleiner Adliger aus dem Norden, besitzlos, ohne Rückhalt. Es scheint allerdings, als habe er sich nicht nur bei Terenas eingeschmeichelt, sondern auch beim Rest, Genn Greymane eingeschlossen.«
»Aber ihn gleich zum König machen?«, schnappte der bärtige Zauberer.
»Oberflächlich betrachtet, nicht die schlechteste Wahl. Es macht Alterac einmal mehr zu einem unabhängigen Königreich. Die anderen Monarchen respektieren ihn, wie ich hörte. Es scheint, als habe er allein die Allianz vor dem Auseinanderbrechen bewahrt.«
»Also, was haltet Ihr von ihm?«, drängte die ältere Frau.
Krasus ging darauf ein. »Er scheint obendrein ein Mann ohne Vergangenheit zu sein. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir von der Konferenz ausgeschlossen wurden. Das Seltsamste aber ist, er stellt eine Art Vakuum dar, was Magie anbelangt.«
Die anderen verfielen in Gemurmel ob dieser verstörenden Neuigkeiten. Dann erkundigte sich der Elfenzauberer, ebenso verwirrt wie der Rest: »Was meint Ihr mit Eurer letzten Bemerkung?«
»Ich meine, dass jedweder Versuch, mittels Magie mehr über ihn zu erfahren, zu nichts führt. Zu absolut nichts. Es ist, als sei Lord Prestor gar nicht existent … und doch ist er es. Was ich von ihm halte? Nun, ich denke, ich fürchte ihn.«
Aus dem Mund des ältesten der versammelten Zauberer, wogen diese Worte besonders schwer. Einige Zeit rasten die Wolken über ihren Köpfen dahin, die Stürme tobten, und der Tag wurde zur Nacht, doch die Herren der Kirin Tor standen nur schweigend da; ein jeder verarbeitete das Gehörte auf andere Weise.
Der jugendliche Magier brach als Erster die Stille. »Dann ist er ein Zauberer, nicht wahr?«
»Das erscheint am schlüssigsten«, erwiderte Krasus mit einem leichten Neigen des Kopfes, um seine Zustimmung zu unterstreichen.
»Ein mächtiger Zauberer«, murmelte der Elf.
»Ebenso schlüssig.«
»Wenn dem so ist«, fuhr der Elfenmagier fort, »um wen handelt es sich? Um einen von uns? Ist er ein Renegat? Mit Sicherheit wäre uns ein Zauberer seiner Fähigkeiten bekannt geworden!«
Die jüngere Frau beugte sich dem Abbild Prestors entgegen. »Sein Gesicht ist mir fremd.«
»Das ist kaum überraschend«, gab ihr älteres Gegenüber scharf zurück, »könnte doch schon jeder von uns tausend Masken überstreifen …«
Ein Blitz durchzuckte Krasus. Er schenkte ihm keine Beachtung. »Eine formelle Ernennung wird in zwei Wochen stattfinden. Einen Monat später wird Lord Prestor, so keiner der anderen Monarchen seine Meinung ändert, zum König gekrönt.«
»Wir sollten Protest einlegen.«
»Das ist ein Anfang. Dennoch, unsere vordringlichste Aufgabe, so denke ich, ist die Suche nach der Wahrheit über diesen Lord Prestor, die allumfassende Suche, um seine Vergangenheit zu enthüllen, seine wahren Absichten. Bis dahin können wir es nicht wagen, ihn öffentlich herauszufordern, denn er wird, abgesehen von uns, zweifelsohne den Rückhalt jedes einzelnen Mitglieds der Allianz haben.«
Die ältere Frau nickte. »Und selbst wir können uns nicht gegen die vereinte Macht der anderen Königreiche stellen, sollten sie unsere Einmischung als zu störend auffassen.«
»Genau so ist es.«
Mit einer knappen Handbewegung ließ Krasus die Darstellung Prestors verschwinden, doch die Erscheinung des jungen Adligen hatte sich bereits ins Bewusstsein eines jeden der Kinn Tor eingebrannt. Schweigend stimmten sie alle darin überein, dass sie vor einem Problem standen, das schwierig zu lösen sein würde.
»Ich muss Euch erneut verlassen«, sagte Krasus. »Ich schlage vor, Ihr alle folgt meinem Beispiel und denkt über diese schreckliche Angelegenheit gründlich nach. Geht jeder Spur nach und sei sie noch so vage und unwahrscheinlich, doch tut es rasch. Wenn der Thron von Alterac von diesem personifizierten Rätsel bestiegen wird, so nehme ich an, wird die Allianz nicht mehr lange bestehen, ganz gleich, wie einig sich ihre Fürsten gegenwärtig geben.« Er holte tief Luft. »Und ich fürchte, Dalaran wird ebenso fallen wie alles andere, wenn dies geschieht.«