»Wegen dieses einzelnen Mannes?«, stieß der bärtige Zauberer hervor.
»Wegen ihm, ja.«
Und während die anderen über seine Worte nachdachten, verschwand Krasus …
… um in seinem Sanktuarium zu erscheinen, noch immer aufgewühlt von dem Sachverhalt, den er entdeckt hatte. Schuldgefühle plagten ihn, denn Krasus war nicht ganz aufrichtig zu seinen Gesprächspartnern gewesen. Er wusste weit mehr über diesen mysteriösen Lord Prestor, oder ahnte es zumindest, als er die anderen hatte wissen lassen. Er wünschte, er hätte ihnen alles erzählen können, doch sie hätten vermutlich nur seine geistige Gesundheit in Frage gestellt, und selbst wenn sie ihm geglaubt hätten, so wäre auf diese Weise zu viel über ihn selbst und seine Methoden enthüllt worden.
Zu diesem undankbaren Zeitpunkt konnte er sich dies nicht leisten.
Mögen sie handeln, wie ich es von ihnen erhoffe.
Allein in seinem dunklen Sanktuarium, wagte Krasus schließlich, seine Robe zurückzuschlagen. Ein einzelnes, schwaches Licht ohne erkennbare Quelle war die einzige Beleuchtung der Kammer, und in seinem sanften Schein stand ein stattlicher, ergrauender Mann mit knochigen Zügen, die ans Leichenhafte grenzten. Schwarze, glitzernde Augen zeugten von einem Alter und einer Müdigkeit, die über das hinausgingen, was sich auf seinem Gesicht niedergeschlagen hatte.
Drei lange Narben zogen sich Seite an Seite die rechte Wange hinab; Narben, die trotz ihres Alters noch immer unterschwelligen Schmerz verursachten.
Der Zauberer hob seine Linke; sie war behandschuht. Oberhalb der Handfläche erschien plötzlich eine bläuliche Kugel. Krasus fuhr mit seiner Rechten über die Kugel, und sofort begannen sich Bilder darin zu formen. Er lehnte sich zurück, um diese Szenen zu studieren. Hinter ihm brachte sich ein hochlehniger Steinsitz in Position.
Einmal mehr observierte Krasus den Palast von König Terenas. Das königliche Bauwerk hatte den Monarchen des Reiches über viele Generationen als Heim gedient. Doppeltürme, die sich über mehrere Stockwerke erhoben, flankierten das Hauptgebäude, einen grauen, prachtvollen Bau, der allein schon einer kleinen Festung glich. Die Banner von Lordaeron flatterten gut sichtbar nicht nur auf den Türmen, sondern auch über dem mächtigen Eingangstor. Soldaten im Gewande der königlichen Garde hielten Wache außerhalb des Tores, im Inneren waren einige Mitglieder der Ritter der Silbernen Hand postiert. Unter normalen Umständen wären die Paladine nicht Teil der Palastverteidigung gewesen, aber solange die Besucher von königlichem Geblüt noch einige kleinere Angelegenheiten zu besprechen hatten, wurden diese vertrauenswürdigen Krieger eindeutig gebraucht.
Erneut fuhr der Zauberer mit seiner freien Hand über die Kugel. Links von der Palastansicht tauchte ein Bild des Innenbereichs auf. Mit einem gezielten Blick verbesserte der Zauberer die Sicht auf den Saal.
Terenas und sein junger Schützling. Obwohl die Zusammenkunft beendet war und die anderen Herrscher unmittelbar vor er Abreise standen, harrte Lord Prestor also weiterhin beim König aus. Krasus verspürte eine starke Verlockung, den Geist schwarzgekleideten Aristokraten zu durchforschen, doch er besann sich eines Besseren. Sollten die anderen dieses vermutlich unmögliche Unterfangen in Angriff nehmen. Jemand wie Prestor erwartete zweifellos einen derartigen Übergriff und würde prompt darauf reagieren. Noch wollte Krasus seine Rolle in diesem Spiel nicht leichtfertig enthüllen.
Wenn er es auch nicht wagte, in die Gedanken des Mannes vorzudringen, so konnte er doch wenigstens seine Vergangenheit genauer unter die Lupe nehmen … und wo ließ es sich besser beginnen als auf jenem Schloss, in dem der Flüchtling unter dem Schütze des Königs residierte? Krasus vollführte über der Kugel eine Geste, und ein neues Bild erschien. Es zeigte jenes andere Gebäude so, als blicke man aus weiter Ferne darauf. Der Zauberer betrachtete es für einen Augenblick, ohne etwas von Belang zu erspähen, und schickte dann seine magische Sonde näher.
Als sich die Sonde der hohen Mauer näherte, die das Gebäude umgab, versperrte ihm ein Zauber, weit schwächer als er es erwartet hätte, den Zugang. Krasus umging dem Spruch mit Leichtigkeit, ohne ihn dabei auszulösen. Nun lag das Äußere des Schlosses unmittelbar vor ihm, ein düsterer Ort, trotz seiner eleganten Fassade. Prestor bevorzugte ganz offensichtlich ein ordentliches Haus, aber nicht unbedingt ein heimeliges. Was den Magier kaum überraschte.
Eine rasche Überprüfung brachte einen weiteren Verteidigungsspruch zum Vorschein, diesmal etwas ausgeklügelter, doch nach wie vor nichts, was Krasus nicht hätte umgehen können. Mit einer geschickten Handbewegung glitt die knochige Gestalt einmal mehr an Prestors Machwerk vorbei. Nur noch ein Moment, und Krasus befand sich im Innern, wo er endlich …
Die Kugel wurde schwarz.
Die Schwärze breitete sich über ihre Grenzen hinaus aus.
Die Schwärze griff nach dem Zauberer.
Krasus stemmte sich von seinem Sitz. Tentakel aus purer Finsternis umschlangen die Stelle, wo er eben noch gesessen hatte und strömten darüber hinweg, wie sie es auch mit dem Magier getan hätten. Als Krasus auf die Beine kam, sah er, wie sich die Tentakel zurückzogen – von dem Sitz war keine Spur zurückgeblieben.
Weitere Tentakel quollen aus dem Ding hervor, das einmal seine magische Kugel gewesen war. Der Magier stolperte rückwärts – einer der wenigen Momente seines Lebens, in denen er vorübergehend zu überrascht war, um zu handeln. Dann jedoch sammelte sich Krasus und begann Worte zu murmeln, die seit mehreren Lebensaltern keine lebende Seele mehr vernommen hatte; Worte, die er selbst nie ausgesprochen, nur mit Faszination erlernt hatte.
Eine Wolke materialisierte vor ihm, eine Wolke, die sich wie ein Gespinst verdichtete. Sofort schwebte sie auf die suchenden Tentakel zu und traf sie in der Luft.
Die ersten Tentakel, die die nachgiebige Wolke berührten, verschrumpelten und wurden zu Asche, die verwehte, noch bevor sie den Boden erreichte. Krasus atmete erleichtert aus – nur um gleich darauf voller Grauen zu beobachten, wie das zweite Bündel Tentakel seinen Gegenzauber umfing.
»Das kann nicht sein …«, murmelte er mit weit aufgerissenen Augen. »Das kann nicht sein!«
Wie es die ersten Tentakel schon mit dem Steinsitz gemacht hatten, zogen die schwarzen Extremitäten nun auch die Wolke in sich hinein, absorbierten, nein, verschlangen sie.
Krasus hatte begriffen, womit er es zu tun hatte. Nur der Unstillbare Hunger, ein verbotener Spruch, war in der Lage, solches zu tun. Der Magier hatte seinen Einsatz bis zu diesem Moment nie persönlich erlebt, aber jeder, der die Künste ähnlich lange wie er studierte, hätte die Gegenwart dieses bösartigen Zaubers erkannt. Dennoch hatte sich irgendetwas verändert, denn der Gegenzauber, den er ausgewählt hatte, hätte der Richtige sein müssen, um genau dieser Bedrohung ein Ende zu setzen, und für einen Augenblick hatte es ja auch den Anschein gehabt …
… doch dann hatte sich eine unheimliche Veränderung vollzogen, eine Verschiebung in der Essenz des dunklen Zaubers. Nun näherte sich ihm das zweite Bündel Tentakel, und Krasus wusste zunächst nicht, wie er es davon abhalten sollte, ihn zum nächsten Gang seines Mahls zu degradieren.
Er zog in Betracht, aus der Kammer zu fliehen, aber er wusste, dass die Monstrosität ihn weiter verfolgen würde, ganz gleich, wo auf der Welt sich Krasus vor ihr zu verbergen suchte. Das war ein Teil der Besonderheit des Unstillbaren Hungers: Seine gnadenlose Jagd erschöpfte und zermürbte das Opfer, bis es sich schließlich in sein Schicksal ergab.
Nein, Krasus musste den Zauber hier und jetzt stoppen.