Seltsamerweise schienen einige Bereiche um den eigentlichen Hafen völlig unangetastet geblieben zu sein, obwohl Rhonin erwartet hätte, gerade hier die schlimmsten Bedingungen vorzufinden. Doch abgesehen von einer gewissen Verdrießlichkeit unter den Arbeitern, die ihnen begegneten, hätte man den Eindruck gewinnen können, Hasic sei niemals angegriffen worden.
»Vielleicht hat es das Schiff doch heil überstanden«, raunte er Vereesa zu.
»Ich denke nicht«, gab sie ebenso leise zurück, »nicht, wenn das dort drüben etwas zu bedeuten hat.«
Er folgte ihrem Blick zum Hafenbecken hinüber. Der Zauberer kniff die Augen zusammen, als könnte er so das Bild, das sich ihm bot, besser begreifen.
»Der Mast eines Schiffes, Zauberkünstler«, klärte ihn Duncan in barschem Ton auf. »Der Rest der Galeone und ihre tapfere Mannschaft ruhen zweifellos unter der Wasseroberfläche.«
Rhonin schluckte den Fluch hinunter, der ihm auf der Zunge lag. Beim Überblicken des Hafens fielen ihm nun die Unmengen Holz und andere Materialien auf, die auf dem Wasser trieben – Treibgut von mehr als einem Dutzend Schiffen, wie der Magier annahm. Nun verstand er, weshalb der Hafen selbst fast unbeschadet davongekommen war: Die Orks mussten ihre Reittiere zuerst gegen die Schiffe der Allianz geführt haben, um ihnen jegliche Fluchtmöglichkeit zu verbauen. Das erklärte zwar nicht, warum die Randgebiete von Hasic schlimmere Schäden als das Zentrum erlitten hatten, doch vielleicht war ein Großteil dieser Verwüstungen erst nach dem Eintreffen der Greifenreiter angerichtet worden. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich eine Siedlung zwischen den Fronten eines tobenden Kampfes wiederfand und den Preis dafür zahlen musste.
Dennoch wären die Verheerungen sicherlich um einiges schlimmer ausgefallen, wenn die Zwerge nicht vorbeigekommen wären. Die Orks hätten den Hafen komplett mit Hilfe ihrer Drachen abgefackelt und versucht, jedes dort befindliche Lebewesen zu massakrieren.
Diese Spekulationen brachten Rhonin allerdings, was sein eigentliches Problem betraf, nicht weiter, denn offenbar existierte das Schiff, das ihn nach Khaz Modan hatte bringen sollen, nicht mehr.
»Euer Weg endet hier, Zauberer«, erklärte Lord Senturus. »Ihr habt versagt.«
»Es gibt sicherlich noch intakte Schiffe. Und ich habe Geld, um für die Überfahrt zu bezahlen …«
»Und wer hier würde für Euer Silber nach Khaz Modan segeln? Diese armen Teufel haben genügend Heimsuchungen überstanden. Glaubt Ihr ernsthaft, einer von ihnen würde sich freiwillig in ein Land begeben, das von den gleichen Orks kontrolliert wird, die dies hier zu verantworten haben?«
»Ich kann nur versuchen, es herauszufinden. Ich danke Euch für Eure Zeit, Mylord, und wünsche Euch für die Zukunft alles Gute.« Sich der Elfe zuwendend, fügte Rhonin hinzu: »Und Euch ebenso, Wald- … Vereesa. Ihr seid eine Zierde Eurer Zunft.«
Sie sah ihn überrascht an. »Ich verlasse Euch noch nicht.«
»Aber Eure Aufgabe …«
»… ist noch nicht beendet. Ich kann Euch hier nicht guten Gewissens ohne Weg und Ziel zurücklassen. Wenn Ihr noch immer eine Passage nach Khaz Modan sucht, werde ich tun, was ich kann, um Euch dabei zu helfen … Rhonin.«
Jäh richtete sich Duncan in seinem Sattel auf. »Selbstverständlich können auch wir die Dinge nicht einfach so belassen, wie sie sind! Bei unserer Ehre, wenn Ihr der Ansicht seid, dass diese Aufgabe eine Fortsetzung wert ist, so werden ich und meine Männer ebenso tun, was in unserer Macht steht, um Euch ein Transportmittel zu beschaffen!«
Vereesas Entscheidung, noch eine Weile bei ihm zu bleiben, hatte Rhonin erfreut, auf die Ritter der Silbernen Hand hingegen hätte er liebend gern verzichtet. »Ich danke Euch, Mylord, aber hier sind viele in Not. Wäre es nicht das Beste, wenn Euer Orden den guten Menschen von Hasic bei der Behebung der Schäden unter die Arme greifen würde?«
Einen Atemzug lang dachte er tatsächlich, es sei ihm gelungen, sich auf diese Weise des Kriegers zu entledigen, aber nach reiflicher Überlegung erklärte Duncan: »Eure Worte haben einiges für sich, Zauberer, dennoch glaube ich, dass wir es einrichten können, sowohl Eurer Mission als auch Hasic mit unserer Anwesenheit zu dienen. Meine Männer werden den Bürgern zur Seite stehen, während ich mich persönlich dafür einsetze, ein Gefährt für Euch aufzutreiben! Damit wäre diese Angelegenheit dann vortrefflich geregelt, oder?«
Niedergeschlagen antwortete Rhonin mit einem einfachen Nicken. Vereesa an seiner Seite reagierte mit mehr Würde. »Eure Unterstützung wird ohne Zweifel von unschätzbarem Wert sein, Duncan. Habt Dank.«
Nachdem der Anführer der Paladine die anderen Ritter los geschickt hatte, besprachen er, Rhonin und die Waldläuferin in aller Kürze die beste Vorgehensweise für ihre Suche. Sie kamen überein, dass sie getrennt voneinander ein größeres Gebiet abdecken konnten. Zum Nachtmahl wollten sie sich wieder treffen, um die gewonnenen Erkenntnisse auszutauschen. Lord Senturus hegte offen Zweifel, dass ihnen Erfolg beschieden sein würde, aber sein Pflichtgefühl gegenüber Lordaeron und der Allianz – und möglicherweise auch seine Schwärmerei für Vereesa – bewegten ihn dennoch dazu, dass er seinen Teil beitragen wollte.
Rhonin durchkämmte auf der Suche nach einem intakten Schiff den nördlichen Hafenbereich. Es zeigte sich jedoch, dass die Drachen gründlich gewesen waren, und als der Tag zur Neige ging, hatte er nichts gefunden, wovon es zu berichten gelohnt hätte. Langsam kam er an den Punkt, an dem er nicht mehr wusste, was ihm mehr Sorgen bereitete – die Unfähigkeit, ein passables Schiff zu finden, oder aber die Aussicht, dass es der ach-sograndiose Lordpaladin sein könnte, der die einzig verbliebene Lösung für Rhonins Misere aufs Tablett bringen würde.
Es gab ja durchaus Wege für Zauberer, um auch solch gewaltige Entfernungen zu überbrücken – doch nur vergleichbar Mächtige wie der berühmt-berüchtigte Medivh hatten diese Pfade je selbstbewusst und ihrer sicher beschriften. Auch wenn Rhonin den Zauber erfolgreich zu wirken vermochte, riskierte er dabei nicht nur eine Entdeckung durch irgendeinen Ork-Magier, sondern wegen der Magie Strömungen in der Region, in der das Dunkle Portal lag, auch unvorhersehbare Abweichungen vom angepeilten Zielort. Und Rhonin war nicht versessen darauf, beispielsweise über einem aktiven Vulkan zu materialisieren.
Doch wie sonst sollte er die Reise unter den gegebenen Umständen noch bewältigen?
Während er nach Antworten rang, schritt ringsum Hasics Wiederaufbau voran. Frauen und Kinder sammelten, was sie an Trümmerteilen im Hafen schwimmend fanden, nahmen mit sich, was sonst noch von Nutzen zu sein schien, und schichteten den Rest an der Kaimauer auf, damit er später entsorgt werden konnte. Eine Sondertruppe der Stadtwache wanderte die Küste entlang und suchte sie nach angetriebenen Leichen der Seeleute ab, die mit ihren Schiffen untergegangen waren. Der dunkel gekleidete, düster dreinblickende Magier, der zwischen ihnen wandelte, erweckte überall Aufsehen, und einige Eltern zogen ihre Kinder fest an sich, sobald er in ihrer Nähe auftauchte.
Hier und da entdeckte Rhonin offenen Vorwurf in den Gesichtern, als sei er, auf welche Weise auch immer, für den schrecklichen Anschlag verantwortlich. Selbst unter diesen traurigen Bedingungen vermochte das einfache Volk seine Vorurteile und Ängste nicht zu unterdrücken.
Über Rhonin flog ein Greifenpaar vorbei. Die Zwerge hielten unentwegt Ausschau nach neuen möglichen Angreifern, auch wenn Rhonin bezweifelte, dass diese Gegend in absehbarer Zeit wieder mit Drachenüberfällen zu rechnen hatte – der Jüngste hatte den Orks zu hohe Verluste eingebracht. Falstad und seine Gefährten hätten dem Hafen mehr geholfen, wenn sie gelandet und den Leuten zur Hand gegangen wären. Doch der müde Zauberer vermutete, dass die Zwerge – ohnehin nicht die umgänglichsten im Bündnis Lordaerons – es vorzogen, »über den Dingen zu stehen«. Bei einem triftigen Grund würden sie Hasic wohl sogar eher ganz verlassen, als dass sie …