Der Elfe wurde bewusst, dass sie, als sie Falstad davon überzeugt hatte, Rhonin und sie über das Meer zu bringen, nicht mehr an den Paladin gedacht hatte. Und nun hatte sie das ungute Gefühl, dass er – soweit glaubte sie den Ritter zu kennen – darauf bestehen würde, sie ebenfalls zu begleiten.
Dieser Gedanke war dem Zauberer, dessen Ärger auf die Waldläuferin noch immer nicht verraucht war, offenbar noch nicht gekommen. »Wir sprechen darüber, wenn wir allein sind, Vereesa, aber wisset bereits dies: Wenn wir die Küste von Khaz Modan erreichen, werde ich – und nur ich – meine Mission dort erfüllen! Ihr aber werdet mit unserem guten Freund Falstad zurückkehren. Und solltet ihr versuchen, das Schicksal noch weiter herauszufordern …«
Seine Augen glühten. Glühten wortwörtlich. Selbst die unerschütterliche Elfe konnte nicht anders, als davor zurückzuschrecken.
»… werde ich euch höchstpersönlich hierher zurückjagen!«
8
Sie näherten sich Grim Batol.
Nekros wusste, dass dieser Tag hatte kommen müssen. Seit der furchtbaren Niederlage Doomhammers und der Hauptstreitmacht der Horde hatte er die Tage gezählt, die vergehen würden, bis die siegreichen Menschen und ihre Verbündeten auf die Überbleibsel des Ork-Reiches in Khaz Modan zu marschierten. Zwar hatte sich die Allianz von Lordaeron Meter um Meter mit Blut erkämpfen müssen, aber schließlich waren ihre Truppen durchgebrochen. Nekros konnte die Armeen, die sich entlang der Grenzen sammelten, regelrecht sehen.
Aber bevor die Heere zum endgültigen Schlag ausholten, versuchten sie, die Orks noch weiter zu schwächen. Wenn er den Worten Krylls trauen durfte, der in diesem Fall keinen Grund hatte, ihn zu belügen, dann war eine Verschwörung im Gange, um die Drachenkönigin entweder zu befreien oder zu töten. Der Goblin konnte nicht sagen, wie viele genau zu diesem Zweck ausgesandt worden waren, aber unter Berücksichtigung verstärkter militärischer Bewegungen im Nordwesten nahm Nekros an, dass eine Unternehmung von dieser Tragweite mindestens ein Regiment handverlesener Ritter und Waldläufer erforderte. Auch würden sicher Zauberer mobilisiert werden, mächtige Zauberer.
Der Ork hob seinen Talisman hoch. Nicht einmal die Dämonenseele würde es ihm ermöglichen, den Hort ausreichend zu verteidigen, und auch von seinem Häuptling würde er keine Unterstützung erhalten. Zuluhed bereitete seine Männer auf den erwarteten Angriff im Norden vor. Ein paar niedere Akolythen beobachteten die südlichen und westlichen Grenzen, aber Nekros hatte ungefähr so viel Vertrauen in sie, wie in die geistige Gesundheit von Kryll. Nein, wie immer hing alles an dem verkrüppelten Ork und den Entscheidungen, die er treffen würde.
Er humpelte durch den Korridor, bis er zum Aufenthaltsraum der Drachenreiter gelangte. Es lebten nur noch wenige Veteranen, darunter einer, dem Nekros sein vollstes Vertrauen schenkte, und der noch immer in jeder Schlacht an vorderster Front ritt.
Die meisten der Krieger hockten um den Tisch in der Mitte des Raumes herum, dem Platz, wo sie Kämpfe diskutierten, aßen, tranken und mit Knochen würfelten. Dem Klappern nach zu urteilen, das aus der Mitte der versammelten Schar drang, wagte selbst jetzt einer ein kleines Spielchen. Die Reiter würden von der Unterbrechung nicht begeistert sein, aber Nekros hatte keine andere Wahl.
»Torgus! Wo ist Torgus?«
Einige der massigen Krieger schauten in seine Richtung, und ihr ungehaltenes Grunzen gab ihm zu verstehen, dass er für sein Eindringen besser einen triftigen Grund vorzuweisen hatte.
Nekros bleckte die Zähne und legte die mächtige Stirn in Falten. Trotz des Verlustes seines Beines war er zum Anführer bestimmt worden, und niemand, nicht einmal die Drachenreiter, durften ihn geringschätzig behandeln.
»Also? Einer von euch Kerlen kriegt jetzt das Maul auf, oder ich verfüttere eure Körperteile an die Drachenkönigin!«
»Hier, Nekros …« Eine große Gestalt erhob sich aus der Gruppe und schraubte sich in die Höhe, bis sie einen Kopf größer war als jeder andere anwesende Ork. Ein Antlitz, selbst nach Ork-Maßstäben hässlich, starrte Nekros entgegen. Ein Hauer war abgebrochen, und Narben zierten beide Seiten des quadratischen, bärenhaften Gesichts. Schultern, eineinhalbmal so breit wie die von Nekros endeten in muskulösen Armen, so dick wie dessen gutes Bein. »Ich bin hier …«
Torgus kam auf seinen Anführer zu, und die übrigen Reiter wichen ihm rasch und respektvoll aus. Torgus bewegte sich mit der kühnen Selbstsicherheit eines Ork-Kriegers, und dies mit vollem Recht, denn unter seiner Führung hatte sein Drache mehr Schaden angerichtet, mehr Greifenreiter in den Tod geschickt und den Streitkräften der Menschen mehr Truppenaufgebote abgerungen, als jeder seiner Artgenossen. Abzeichen und Orden von Doomhammer und Blackhand, ganz zu schweigen von denen verschiedener Clanführer wie Zuluhed, baumelten vom Axtgurt um seine Brust.
»Was willst du von mir, Alter? Noch eine Sieben, und ich hätte sie alle dran gehabt! Hoffentlich ist es wichtig, weshalb du mich störst …!«
»Es geht um das, wofür du ausgebildet wurdest!«, schnappte Nekros, entschlossen sich selbst von diesem Krieger-Ungetüm nicht einschüchtern zu lassen. »Es sei denn, du hast deine Kämpfe neuerdings nur noch an den Spieltisch verlegt!«
Einige der anderen Reiter begannen zu raunen, aber Torgus' Neugierde schien geweckt. »Ein Spezialauftrag? Etwas, das besser ist, als ein paar unbedeutende Menschenbauern abzufackeln?«
»Etwas, bei dem es um Soldaten geht – und vielleicht noch einen Zauberer oder zwei. Wäre das nach deinem Geschmack?«
Rote, grausame Augen verengten sich zu Schlitzen. »Erzähl mir mehr davon, Alter …!«
Endlich verfügte Rhonin über ein Transportmittel, um nach Khaz Modan zu gelangen. Das hätte ihn eigentlich froh stimmen sollen, aber der Preis dafür erschien dem Zauberer allzu hoch. Schlimm genug, dass er auf die Zwerge angewiesen sein würde, die ihn eindeutig ebenso wenig mochten wie er sie, aber Vereesas Ankündigung, ihn ebenfalls begleiten zu müssen – gleichwohl es sich zugegebenermaßen um eine notwendige Ausrede gehandelt hatte, um überhaupt Falstads Einwilligung zu erhalten –, hatte seine ursprüngliche Planung endgültig zunichte gemacht. Es war seine erklärte Absicht gewesen, die Fahrt nach Grim Batol allein anzutreten – ohne Begleiter und das Risiko, eine neuerliche Katastrophe heraufzubeschwören.
Weitere Tote.
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, war ihm gerade eben auch noch zu Ohren gekommen, dass es Lord Duncan Senturus irgendwie geschafft gebracht hatte, den starrköpfigen Falstad davon zu überzeugen, ihn ebenfalls mitzunehmen.
»Das ist Irrsinn!«, wiederholte Rhonin – er wusste nicht mehr, wie oft schon. »Es ist nicht nötig, dass noch andere mitreisen!«
Doch selbst während sich die Greifenreiter bereits darauf vorbereiteten, sie auf die andere Seite des Meeres zu fliegen, schenkte ihm niemand Gehör. Niemand wollte hören, was er einzuwenden hatte. Er argwöhnte sogar, dass, sollte er sich weiterhin beklagen, Rhonin schließlich der Einzige sein könnte, der nicht mitflog – so sinnlos dies auch erscheinen mochte. Falstad hatte ihm jedenfalls bereits Blicke zugeworfen, die sich in diese Richtung deuten ließen …
Duncan hatte sich zu seinen Männern begeben, Roland das Kommando übertragen und seine Anweisungen hinterlassen. Der bärtige Ritter händigte seinem jüngeren Stellvertreter etwas aus, das wie ein Medaillon aussah. Rhonin machte sich keine Gedanken darüber – die Ritter der Silbernen Hand schienen tausend Rituale für die kleinsten Anlässe zu pflegen –, doch Vereesa, die an seine Seite getreten war, erklärte ihm: »Duncan hat Roland das Siegel seines Kommandos übergeben. Wenn dem älteren Paladin etwas passiert, wird Roland dauerhaft seinen Platz in der Hierarchie einnehmen. Die Ritter der Silbernen Hand überlassen nichts dem Zufall.«