Und dann schloss sich eine Reptilienpranke um ihn – so gewaltig, dass Rhonin sich darin fast verlor …
9
»Duncan!«
»Es ist zu spät, meine Elfendame!«, rief Falstad. »Euer Mann ist bereits tot – doch was für eine glorreiche Erinnerung hinterlässt er!«
Vereesa überhörte die fälschliche Annahme, dass sie Lord Senturus näher gestanden habe, als dies tatsächlich der Fall war. Alles, was für sie zählte, war, dass gerade ein tapferer Mann, den sie viel zu kurz gekannt hatte, umgekommen war. Wie Falstad, hatte natürlich auch sie sofort erkannt, dass es sich nur noch um Duncans Hülle gehandelt hatte, die in die Tiefe gestürzt war – dennoch wurzelte ihr Entsetzen über seinen tragischen Tod tief. Einzig das Wissen, dass Duncan das nahezu Unmögliche vollbracht hatte, linderte es ein wenig.
Dem Drachen war eine folgenschwere Verletzung zugefügt worden, die ihn sich wie wahnsinnig hin und her werfen ließ. Im Sterben versuchte der Leviathan, die tödliche Klinge aus seinem Hals zu schütteln, doch erlahmten seine Bemühungen zusehends. Es war nur eine Frage der Zeit, bis der Gigant sich seinem Bezwinger anschließen und in das nasse Grab folgen würde.
Doch selbst im Todeskampf blieb der Drache eine Bedrohung. Eine seiner Schwingen traf fast den Zwerg und Vereesa. Falstad lenkte den Greif nach unten, um den Zuckungen des Leviathans zu entgehen. Angstvoll klammerte sich Vereesa an dem Zwerg fest; Zeit, sich weiter mit Duncans Schicksal zu befassen, fand sie nicht.
Auch der zweite Drache bedrohte nach wie vor den Greifen. Falstad zog sein Reittier wieder nach oben und stieg über das andere Ungeheuer hinaus, um dessen furchtbaren Klauen zu entrinnen. Ein anderer Reiter entging den zuschnappenden Kiefern des Leviathans nur knapp.
Sie durften hier nicht länger ausharren. Der Ork, der das zweite Untier lenkte, verfügte über eine offensichtlich weitreichende Erfahrung im Luftkampf gegen Greife. Früher oder später würde er einen der Zwerge erwischen. Vereesa wollte nicht noch mehr Todesopfer. »Falstad, wir müssen weg von hier!«
»Ich würde Euch diesen Gefallen gern tun, meine Elfendame, aber das schuppige Untier und sein Lenker scheinen anderes im Sinn zu haben!«
Tatsächlich schien der Drache sich mittlerweile ausschließlich auf Vereesa und deren Gefährten zu konzentrieren, höchstwahrscheinlich auf Geheiß des Orks. Ihm mochte Vereesa auf dem Greifen aufgefallen sein, und offenbar hielt er sie für wichtig.
Die Anwesenheit von gleich zwei roten Giganten warf für die Waldläuferin eine Reihe von Fragen auf. Stand ihr Auftauchen in direktem Zusammenhang mit Rhonins Mission? Sie bezweifelte es, da er ihrer Meinung nach in diesem Fall viel offensichtlicher das vorrangige Angriffsziel hätte sein müssen …
Wo war der Zauberer überhaupt? Während Falstad seinen Greif zu höherer Geschwindigkeit antrieb und der Drache dennoch zu ihnen aufholte, schaute sich die Elfe um, fand aber keine Spur von Rhonin. Beunruhigt intensivierte sie ihre Suche. Aber Vereesa vermochte weder den Magier noch den Greifen entdecken, auf dem er geritten war.
»Falstad, Rhonin ist verschwunden …!«
»Eine Sorge, der Ihr Euch später widmen solltet. Im Augenblick wäre es wichtiger, dass Ihr Euch gut festhaltet!«
Sie folgte seinem Ratschlag … und zwar gerade noch rechtzeitig, denn urplötzlich beschrieb der Greif eine derart enge Kurve, dass Vereesa möglicherweise abgeworfen worden wäre, hätte sie auch nur einen Moment länger gezögert.
Mörderische Klauen wischten dort, wo der Zwerg und sie sich eben noch aufgehalten hatten, durch die Luft. Der Drache brüllte enttäuscht auf und nahm die Verfolgung auf.
»Macht Euch klar zum Gefecht, meine Elfendame! Es scheint, als bliebe uns keine andere Wahl …«
Während Falstad seinen Sturmhammer losschnallte, bedauerte Vereesa einmal mehr den Verlust ihres Bogens. Zwar besaß sie noch ihr Schwert, war aber nicht gewillt, Duncans Beispiel zu folgen und sich selbst zu opfern, um den Drachen zu bezwingen. Außerdem musste sie herausfinden, was aus Rhonin geworden war, dem ihr Hauptaugenmerk galt.
Der Ork hatte seine lange Streitaxt gezogen und wirbelte sie nun, unverständliche Kampfschreie ausstoßend, über seinem Kopf herum. Falstad antwortete mit einem kehligen Brüllen und schien seine vorherige Sorge um Vereesa abgelegt zu haben. Die Freude auf den bevorstehenden Kampf überwog eindeutig.
Außerstande, sonst etwas Sinnvolles zu tun, klammerte sich die Waldläuferin nur noch fester und hoffte, dass der Zwerg sein Ziel nicht verfehlen würde.
Eine gigantische Gestalt, schwarz wie die Nacht, fiel zwischen die beiden Gegner und griff den roten Drachen an, wobei sie das Ungeheuer und seinen Lenker völlig überraschte.
»Was, im Namen von …?«, war alles, was Falstad herausbrachte.
Die Elfe war sprachlos.
Schwarze Schwingen, doppelt so groß wie die des Roten, füllten ihr Sichtfeld aus, und das metallische Glitzern blendete Vereesa. Ein mächtiges Gebrüll erschütterte den Himmel wie Donnergrollen und trieb die Greife auseinander.
Ein Drache von unglaublichen Ausmaßen schnappte nach dem um einiges kleineren Roten. Dunkle, schmale Augen blickten voller Verachtung auf den nicht halb so imposanten Leviathan. Der Drache des Orks erwiderte zwar das Gebrüll, zeigte aber keinerlei Begeisterung über den neuen Gegner.
»Ich schätze, das war's dann für uns, meine Elfendame! Das ist niemand anderes, als der Dunkle persönlich!«
Der schwarze Goliath breitete seine Schwingen weit aus, und das Geräusch, das aus seinem Rachen drang, erinnerte Vereesa an raues, höhnisches Gelächter. Erneut erhaschte sie einen Blick auf den riesigen Körper des Neuankömmlings, der von Metallplatten bedeckt war – einer Art Rüstung!
Die Hornschuppen eines Drachen bot bereits einen natürlichen, schwer durchdringbaren Schutz; welche Panzerung sollte eine solche Kreatur da noch zusätzliche schützen?
Vereesa gab sich die Antwort selbst: Adamantium. Es war noch härter als die ohnehin schon nahezu undurchdringliche Echsenhaut, und nur ein einziger der Großen Drachen hatte sich jemals der Tortur unterzogen, sich damit zu rüsten …
»Deathwing«, flüsterte die Elfe. »Deathwing!«
Unter den Elfen erzählte man sich seit uralter Zeit, dass es fünf Große Drachen gab, fünf Leviathane, welche die geheimen und natürlichen Kräfte verkörperten. Manche sagten, dass Alexstrasza, die Rote, die Essenz des Lebens an sich darstellte. Von den übrigen war wenig bekannt, denn bereits vor der Geburt der Menschen hatten die Drachen in Abgeschiedenheit gelebt. Die Elfen hatten ihren Einfluss gespürt, hatten sogar von Zeit zu Zeit Umgang mit ihnen gepflegt, doch nie hatte eine dieser Kreaturen ihre heiligsten Geheimnisse enthüllt.
Aber es gab unter den Drachen einen, der überall von sich reden machte, der nicht müde wurde, die Welt daran zu erinnern, dass seinesgleichen dazu bestimmt gewesen waren, die Welt zu beherrschen. Obwohl er ursprünglich einen anderen Namen getragen hatte, war er als Deathwing berühmt-berüchtigt geworden, und in diesem Wort drückte sich seine ganze Verachtung aus, die er für das »niedere Leben« um sich herum empfand.
Selbst die Ältesten aus Vereesas Volk vermochten nicht zu sagen, welches eigentliche Motiv den nachtschwarzen Gesellen antrieb, die von Elfen, Zwergen und Menschen errichtete Welt zu bekriegen.
Die Elfen hatten einen anderen Namen für ihn, den sie nur flüsternd und in der fast vergessenen Alten Sprache weitergaben: Xaxas. Eine knappes Wort mit vielfältiger Bedeutung. Es umschrieb das Böse an sich, Chaos und heillosen Zorn. Deathwing oder Xaxas war die Verkörperung urtümlicher Naturgewalt, wie man sie sonst nur bei Vulkanausbrüchen und gewaltigen Erdbeben erlebte.
Wenn Alexstrasza die Essenz des Lebens, die die Welt zusammen hielt, personifizierte, dann stellte Deathwing deren Gegenpol dar, die zerstörerischen Kräfte, die alles zu töten und zu vernichten trachteten.