In der Mitte seines dunklen Sanktuariums stehend und die Kapuze so weit ins Gesicht gezogen, dass dieses völlig darunter verschwand, sprach Krasus die Worte, die ihn zu denen tragen würden, deren Hilfe er am meisten brauchte. Die schwach beleuchtete Kammer verschwamm, verging …
… und mit einem Mal befand sich der Magier in einer Höhle aus Eis und Schnee.
Krasus blickte sich um. Der Anblick überwältigte ihn trotz früherer Besuche vor langer, langer Zeit. Er wusste, in wessen Reich er sich begeben hatte, und er wusste, dass von allen, um deren Hilfe er ersuchen wollte, der hier Ansässige den größten Anstoß an seinem derart unverschämten Eindringen nehmen würde. Selbst Deathwing respektierte den Herren dieser eisigen Höhle. Nur wenige drangen je in dieses Sanktuarium im Herzen der Kälte vor, dem unwirtlichen Northrend, und noch wenigere verließen es je wieder lebendig. Riesige Dorne, fast wie aus purem Kristall geschliffen, hingen von der eisigen Decke, manche von ihnen von der zwei- oder gar dreifachen Größe des Zauberers. Andere, mehr nach schlichtem Gestein aussehende Formationen ragten aus dem dicken Schnee empor, der nicht nur den Großteil des Bodens bedeckte, sondern auch die Wände. Aus einem Durchgang fiel Licht in die Kammer, in der Krasus stand, und erzeugte glitzernde Trugbilder. Ein leichter Wind hatte, wie auch immer, seinen Weg aus dem kalten, öden Land oberhalb des verwunschenen Ortes hier hinab ins Innere gefunden, und mit jedem Hinwegstreichen über die eisigen Dorne brachte er sie in allen Farben des Regenbogens zum Leuchten.
Doch im Schatten der Schönheit dieses winterlichen Wunders lagen grausigere Spuren verborgen. Unter der bezaubernden Decke aus Schnee konnte Krasus erstarrte Formen ausmachen, die Schlimmstes erahnen ließen, gelegentlich sogar die Umrisse einzelner Körperteile. Er wusste, dass vieles von den großen Tieren stammte, die in diesen Landen lebten, ein paar jedoch, insbesondere eine Kontur, die eine im grässlichen Todeskampf verkrampfte Hand nachzeichnete, zeugten von dem Schicksal derer, die es gewagt hatten, unbefugt hier einzudringen.
Weitere Hinweise auf das Schicksal der Eindringlinge waren in den umstehenden Eismonumenten zu erkennen; den Kern einiger bildeten die gefrorenen Leichen uneingeladener Besucher aus längst vergangenen Tagen.
Krasus sah, dass Eistrolle zu den häufigsten Opfern zählten – barbarische Kolosse mit fahler Haut und mehr als dem zweifachen Körperumfang ihrer südlichen Artgenossen. Urteilte man nach ihren qualverzerrten Gesichtern, waren sie keines leichten Todes gestorben.
Weiter hinten bemerkte der Magier zwei der wilden Tiermenschen, die als Wendigos bekannt waren. Auch sie waren im Tod eingefroren worden, doch während die Trolle dem Grauen über ihren schrecklichen Tod Ausdruck verliehen, stellten die Wendigos Masken der Wut zur Schau – als könnten sie es noch immer nicht fassen, in eine solche Lage geraten zu sein.
Krasus durchquerte die eisige Kammer und ließ den Blick über weitere Stücke dieser grausigen Ausstellung schweifen. Er entdeckte einen Elf und zwei Orks, die seit seinem letzten Besuch hinzugefügt worden waren, Anzeichen dafür, dass der Krieg selbst in diese abgeschiedene Heimstatt vorgedrungen war. Einer der Orks sah aus, als sei er gefrostet worden, ohne sich überhaupt des Schicksals bewusst geworden zu sein, das ihn ereilt hatte.
Und hinter den Orks fand Krasus eine Leiche, die selbst ihn entsetzte. Auf den ersten Blick schien es sich nur um eine riesige Schlange zu handeln, was in einer solchen Hölle aus Eis bereits ungewöhnlich genug gewesen wäre, doch darüber hinaus ging der gewundene, zylindrische Körper am Kopfende plötzlich in einen nahezu menschlichen Rumpf über – immerhin ein menschlicher Rumpf, der von dünnen Schuppen bedeckt war …
Zwei Arme reckten sich dem Zauberer wie eine Einladung entgegen, das grauenvolle Schicksal mit der Kreatur zu teilen.
Ein scheinbar elfisches Gesicht hieß den Besucher willkommen, doch es besaß eine flachere Nase, nur einen Schlitz von einem Mund und Zähne, die so scharf wie die eines Drachen waren. Dunkle pupillenlose Augen glänzten wutentbrannt. In der Dunkelheit und mit der unteren Hälfte seiner Gestalt im Verborgenen liegend, hätte man das Geschöpf als Mensch oder sogar Elf missdeuten können. Krasus aber wusste, was es tatsächlich war – oder vielmehr gewesen war. Der Name formte sich ohne sein Zutun auf der Zunge des Zauberers, als würde das bösartige, vereiste Opfer vor ihm danach verlangen. »Na …«, setzte Krasus an.
»Ihr ssseid nichtsss, nichtsss, nichtsss, wenn nicht unverfroren …«, unterbrach ihn eine wispernde Stimme, die der Wind heranzutragen schien.
Der gesichtslose Zauberer drehte sich um und sah einen Teil des Eises an einer Wand herausbrechen – und sich in etwas entfernt Menschenähnliches verwandeln. Doch die Beine waren zu dünn und knickten in unmöglichen Winkeln ab, und der Körper erinnerte eher an den eines Insektes. Auch der Kopf war nur die oberflächliche Wiedergabe eines menschlichen, denn obwohl es Augen, Nase und Mund in dem Gesicht gab, wirkte es, als habe ein Künstler eine Schneeskulptur begonnen und die Idee dann wieder verworfen, kaum dass die ersten Züge erkennbar geworden waren.
Ein schimmernder Mantel umgab die bizarre Gestalt, kapuzenlos, aber mit einem Kragen, der auf der Rückseite in mächtigen Dornen endete.
»Malygos …«, murmelte Krasus. »Wie geht es Euch?«
»Gut, gut, gut, solange meine Ruhe nicht gessstört wird.«
»Ich wäre nicht hier, hätte ich eine andere Wahl gehabt.«
»Esss gibt immer eine andere Wahl – Ihr könntet gehen, gehen, gehen! Ich wäre allein!«
Der Zauberer ließ sich nicht vom Herren der Höhle einschüchtern. »Und habt Ihr vergessen, weshalb Ihr so ruhig, so ungestört, an diesem Ort lebt, Malygos? Habt Ihr es so rasch vergessen? Es ist doch kaum ein paar Jahrhunderte her, seit …«
Die eisige Kreatur ging am Rande der Höhle entlang und richtete etwas, das man als seine Augen bezeichnen konnte, auf den Besucher. »Ich vergesse nichts, nichts, nichts!«, wehte der raue Wind heran. »Am wenigsten die Tage der Dunkelheit …«
Krasus drehte sich langsam um die eigene Achse, Malygos stets im Blick behaltend. Zwar gab es keinen vernünftigen Grund, weshalb er mit einem Angriff hätte rechnen sollen, doch einer der Ältesten derer, die noch lebten, hatte durchblicken lassen, dass Malygos mittlerweile mehr als nur ein bisschen verrückt sein könnte.
Die dürren Beine waren ideal für Schnee und Eis, die Krallen an ihrem Ende gruben sich tief ein. Krasus fühlte sich an die Stöcke erinnert, die Völker in kälteren Gegenden benutzten, um sich auf ihren Skiern abzustoßen.
Malygos hatte nicht immer so ausgesehen, und nicht einmal jetzt war er an diese Form gebunden. Er verwendete die momentane Gestalt aber, weil er sie in seinem Unterbewusstsein dem Körper, in dem er geboren worden war, vorzog.
»Dann erinnert Ihr Euch also, was derjenige, der sich selbst den Namen Deathwing gab, Euch und den Euren antat.«
Das sonderbare Gesicht zuckte, die Klauen zogen sich zusammen. Etwas wie ein Schlangenzischeln entfuhr Malygos.
»Ich erinnere mich …«
Die Höhle schien mit einem Mal zu schrumpfen. Krasus blieb, wo er war, denn er wusste, dass es sein Todesurteil sein konnte, wenn er in Malygos Welt der Qual ein Zeichen von Schwäche zeigte.
»Ich erinnere mich!«
Die eisigen Dornen zitterten und erzeugten zunächst ein Geräusch, das an den Klang winziger Glöckchen erinnerte, dann aber rasch zu einem ohrenbetäubenden Klirren anschwoll. Malygos stapfte auf den Zauberer zu, sein Mund ein langer, verbitterter Strich. Die Augenhöhlen unter den fahlen Nachbildungen von Brauen vertieften sich.
Schnee und Eis breiteten sich aus, wuchsen in die Höhe und begannen die Kammer mehr und mehr zu füllen. Um Krasus herum wurde ein Teil des Schnees aufgewirbelt, erhob sich und wurde zu einem gespenstischen Giganten von mythischen Ausmaßen, einem Eisdrachen – einem Geisterdrachen.
»Ich erinnere mich an das Versprechen«, zischte die groteske Gestalt. »Ich erinnere mich an das Bündnis, das wir eingingen. Niemals einander töten! Die Welt behüten bis in alle Ewigkeit!«