Der Zauberer nickte, wenngleich nicht einmal Malygos' Blick die Grenzen seiner Kapuze überwinden konnte. »Bis es zum Verrat kam.«
Der Schneedrache breitete die Schwingen aus. Er war nicht real, nur ein Trugbild, das die Gefühle des Herrn der Höhle widerspiegelte. Die mächtigen Kiefer öffneten und schlossen sich, als spreche diese gespenstische Marionette.
»Bis zum Verrat, bis zum Verrat, bis zum Verrat …« Ein Schwall aus Eis explodierte aus dem Schneedrachen, Eis, so hart und tödlich, dass es sich in die felsigen Wände bohrte. »Bis Deathwing kam!«
Krasus hielt eine Hand außerhalb von Malygos' Sichtfeld, nur für den Fall, dass er sie in den nächsten Augenblicken für einen raschen Zauberspruch benötigte.
Doch die monströse Kreatur behielt die Kontrolle über sich. Sie schüttelte den Kopf – der Schneedrache wiederholte die Geste – und fügte in vernünftigerem Tonfall hinzu: »Doch der Tag des Drachen war beinahe vorüber und niemand von uns, niemand von uns, niemand von uns glaubte, etwas von ihm fürchten zu müssen. Er war nur ein Bestandteil der Welt, ihre niederträchtigste und verdorbenste Spiegelung. Von allen Tagen war seiner am machtvollsten gekommen und wieder vergangen!«
Krasus sprang zurück, als der Boden vor ihm erbebte. Zuerst dachte er, Malygos hätte ihn in einem Moment der Unachtsamkeit zu überrumpeln versucht, doch der Boden bäumte sich lediglich auf und formte einen weiteren Drachen, diesmal aus Erde und Stein.
»Es geschehe um der Zukunft willen, sagte er«, fuhr Malygos fort. »Wenn es auf der Welt nur noch Menschen, Elfen und Zwerge gäbe, um über sie zu wachen, sagte er! Lasst alle Gruppen, alle Schwärme, all die Großen Drachen – die Kräfte – zusammenkommen, um das elende Kleinod wiederzuerschaffen, neu zu formen – und danach sollten wir den Schlüssel in der Hand halten, um die Welt für immer, selbst nachdem der letzte von uns dahingeschieden wäre, beschützen zu können!« Er blickte zu den beiden Trugbildern auf, die er geschaffen hatte. »Und ich, ich, ich … ich, Malygos, stand an seiner Seite und überzeugte den Rest!«
Die zwei Drachen umkreisten einander, durchdrangen einander, verschlangen einander – wieder und wieder. Krasus riss den Blick von ihnen los und ermahnte sich, dass sein Gegenüber zwar Deathwing über alle Maßen hassen mochte, dies jedoch nicht bedeutete, dass Malygos ihm helfen würde … oder ihm auch nur erlauben würde, diese Eishöhle wieder zu verlassen.
»Und so«, unterbrach der gesichtslose Zauberer ihn, »erfüllte es alle Drachen, insbesondere die Kräfte. Sie verbanden sich, in gewisser Weise, mit ihm …«
»Lieferten sich auf ewig seiner Gnade aus!«
Krasus nickte. »Stellten auf ewig sicher, dass es der einzige Gegenstand sein würde, der Macht über sie hatte, wenngleich sie dies damals noch nicht verstanden.« Er hielt eine behandschuhte Hand empor und erschuf eine eigene Illusion, ein Trugbild des Kleinods, von dem sie beide sprachen. »Ihr erinnert Euch, wie täuschend es wirkte? Ihr erinnert Euch, was für ein schlicht aussehendes Ding es war?«
Mit dem Erscheinen des Bildes keuchte Malygos auf und duckte sich. Die Zwillingsdrachen fielen in sich zusammen, und Schnee und Fels verstreuten sich nach überall hin, ohne den Zauberer oder den Herrn der Höhle auch nur zu berühren. Das Getöse hallte in den leeren Gängen wider und drang sicherlich selbst bis in die weite, leere Einöde über ihnen.
»Nehmt es weg, nehmt es weg, nehmt es weg!«, verlangte Malygos beinahe wehleidig. Klauenhände versuchten, die undeutlich erkennbaren Augen zu bedecken. »Zeigt es mir nicht länger!«
Aber Krasus ließ sich nicht aufhalten. »Seht es an, mein Freund! Seht auf den Untergang der ältesten aller Rassen! Seht Euch an, was in aller Welt bekannt wurde unter dem Namen Dämonenseele!«
Die schlichte, schimmernde Scheibe drehte sich über der Handfläche des Magiers. Eine goldene Trophäe, die so harmlos wirkte, dass sie in den Besitz vieler gelangt war, im Laufe der Zeit, ohne dass auch nur einer ihrer Besitzer eine Vorstellung von der Macht gehabt hatte, die ihr innewohnte. Es war nur ein Trugbild, das hier beschworen wurde, doch selbst dieses erzeugte noch solche Furcht im Herzen Malygos', dass es ihn mehr als eine Minute kostete, ehe er seinen Blick darauf richten konnte.
»Geschmiedet aus der innersten Magie jedes Drachen, geschaffen, um die Dämonen der Brennenden Legion zuerst zu bekämpfen und dann deren eigenen magischen Kräfte darin zu bannen!« Der verhüllte Magier trat auf Malygos zu. »Und missbraucht von Deathwing, um damit alle anderen Drachen zu verraten, kaum dass die Schlacht geschlagen war! Missbraucht von ihm gegen seine engsten Verbündeten …!«
»Beendet dies! Die Dämonenseele ist verloren, verloren, verloren, und der Dunkle ist tot, vernichtet von menschlichen und elfischen Zauberern!«
»Ist er das?« Über die Reste der beiden Trugbilder steigend, gab Krasus das Bild des Artefakts auf und brachte stattdessen ein anderes hervor: einen Menschen, einen Mann, gekleidet ganz in Schwarz. Ein selbstbewusster junger Adliger mit Augen, die weit älter waren, als seine Erscheinung es ahnen ließ.
Lord Prestor.
»Dieser Mann, dieser Sterbliche', wird der nächste König von Alterac – Alterac im Herzen der Allianz von Lordaeron, Malygos. Kommt Euch nichts an ihm bekannt vor? Gerade Euch?«
Die eisige Kreatur kam näher und blickte auf das kreisende Bild des falschen Edelmannes. Malygos begutachtete Prestor sorgfältig, bedächtig … und mit zunehmendem Entsetzen.
»Das ist kein Mann!«
»Sagt es, Malygos. Sagt, was Ihr seht.«
Die unmenschlichen Augen richteten sich auf Krasus. »Das wisst Ihr sehr gut selbst – es ist Deathwing!« Eine tierhaftes Zischeln entfuhr dem grotesken Geschöpf, das einst selbst die majestätische Gestalt eines Drachen besessen hatte. »Deathwing …«
»Deathwing, genau«, erwiderte Krasus in nahezu gefühllosem Tonfall. »Deathwing, der zweimal für tot und besiegt gehalten wurde. Deathwing, der die Dämonenseele einsetzte und damit jede Hoffnung auf die Rückkehr eines Zeitalters der Drachen zunichte machte. Deathwing … der nun versucht, die jüngeren Völker zu verführen, auf dass sie seiner verräterischen Zunge folgen.«
»Er wird sie gegeneinander in den Krieg führen …«
»Ja, Malygos. Er wird sie gegeneinander in den Krieg führen, bis nur noch wenige leben – und diese wird Deathwing dann selbst zur Strecke bringen. Ihr wisst, was für eine Welt sich Deathwing erträumt. Eine, in der nur noch er und seine auserwählten Gefolgsleute existieren. Deathwings gesäubertes Reich … in dem nicht einmal mehr Platz für Drachen ist, die nicht von seiner Art sind.«
»Neeeiiinn …!«
Malygos Gestalt breitete sich plötzlich nach allen Richtungen aus, und seine Haut nahm reptilischen Charakter an. Auch die Farbe dieser Haut änderte sich von eisigem Weiß zu einem dunkleren, frostigen Silberblau. Seine Glieder wurden dicker, und sein Gesicht wuchs zu drachenhafter Länge. Doch Malygos vollendete die Verwandlung nicht, sondern hielt an einem Punkt inne, der eine grauenhafte Karikatur erschuf, ein Zwischending aus Drache und Insekt – ein Albtraumgeschöpf. »Ich verbündete mich mit ihm, und zum Dank wurde meine Sippe zugrunde gerichtet. Ich bin der letzte meiner Art. Die Dämonenseele nahm mir meine Kinder, meine Gefährten. Ich selbst konnte nur weiterleben in der Gewissheit, dass jener, der uns verriet, umkam und die verfluchte Scheibe für immer ausgelöscht wurde …«