Der Zauber, den der misstrauische Magier warnungslos schleuderte, hatte ihm im Krieg gute Dienste geleistet. Er hatte das Leben aus einem angreifenden Ork, an dessen fleischigen Händen bereits das Blut von sechs Rittern und einem befreundeten Zauberer geklebt hatte, gequetscht, und in abgeschwächter Form hatte er einen der Ork-Schamanen in Schach gehalten, während Rhonin zum letzten Schlag ausholte.
Mit Drachen hatte Rhonin indes keine Erfahrung. Doch die Schriftrollen hatten darauf bestanden, dass der Spruch seinen Zweck in jedem Falle erfüllte, vor allem wenn es um das Bannen der uralten Giganten ging.
Ringe aus Gold bildeten sich um Deathwing …
… und die schattenhafte Gestalt spazierte einfach durch sie hindurch!
»Nun, war das wirklich notwendig?« Ein Arm hob sich aus der Robe. Deathwing zielte.
Ein Felsbrocken neben Rhonin begann zu brodeln, dann schmolz er direkt vor seinen Augen. Der verflüssigte Stein sickerte in jeden erreichbaren Spalt und verschwand spurlos, und dies alles geschah binnen weniger Sekunden.
»Das hätte ich auch mit dir anstellen können, Zauberer, wäre es meine Absicht gewesen. Zweimal bist du durch mich dem Tod entronnen, soll er das dritte Mal sein Recht erhalten?«
Klugerweise schüttelte Rhonin den Kopf.
»So nimmst du also doch noch Vernunft an.« Deathwing trat näher und wurde mit jedem Schritt stofflicher. Er zielte erneut, diesmal auf die andere Stelle. »Trink. Du wirst es äußerst erfrischend finden.«
Rhonin blickte hinab und entdeckte einen im Gras liegenden Weinschlauch. Obwohl dieser vor wenigen Sekunden noch nicht da gewesen war, zögerte er nicht, ihn aufzuheben und von seinem Inhalt zu kosten. Nicht nur sein mittlerweile immens gewordener Durst verlangte danach, der Drache hätte darüber hinaus eine Weigerung als einen weiteren Akt der Auflehnung verstehen können. In seiner gegenwärtigen Lage blieb Rhonin nichts anderes übrig, als sich ihm zu fügen … und zu hoffen.
Sein schwarzgewandeter Gefährte bewegte sich erneut und wurde kurzzeitig zu einem fast konturlosen Schemen. Dass Deathwing – ganz zu schweigen von jedem anderen Drachen in der Lage war, menschliche Form anzunehmen, beunruhigte den Zauberer. Wer vermochte schon zu sagen, was eine solche Kreatur imstande war, unter Rhonins Volk anzurichten? Und konnte sich Rhonin überhaupt sicher sein, dass Deathwing nicht bereits auf genau diesem Weg seine Intrigen gestrickt hatte!
Doch wenn dem so gewesen wäre, warum enthüllte er dann ein Geheimnis von solcher Dimension gegenüber Rhonin? Es machte nur Sinn, wenn er beabsichtigte, den Magier irgendwann zum Schweigen zu bringen …
»Du weißt so wenig über uns.«
Rhonins Augen weiteten sich. Beinhalteten Deathwings Kräfte die Fähigkeit, die Gedanken anderer zu lesen?
Der Drache ließ sich zur Linken des Menschen nieder und erweckte dabei den Anschein, auf einem Stuhl oder massiven Felsen zu sitzen, den Rhonin unter der weiten Robe nicht sehen konnte. Starre Augen unter einem nachtschwarzen, spitz zulaufenden Haaransatz trafen und bezwangen Rhonins eigenen Blick.
Als der Zauberer zur Seite sah, wiederholte Deathwing seinen letzten Satz. »Du weißt so wenig über uns.«
»Es … es gibt nicht viele Berichte über Drachen. Die meisten Menschen, die sich bemühten, sie zu erforschen, wurden verspeist.«
So schwach sein Versuch, Humor zu beweisen, dem Zauberer auch selbst vorkommen mochte, so erheiterte er doch Deathwing, wie sich unschwer erkennen ließ. Der Drache lachte. Lachte laut auf. Lachte über etwas, das unter anderen Umständen eine an Wahnsinn grenzende Frechheit dargestellt hätte.
»Ich hatte vergessen, wie unterhaltsam deinesgleichen sein kann, mein kleiner Freund! Wie amüsant!« Das zu breite, zu zähnefletschende Lächeln kehrte in all seinem unheilvollen Glanz zurück. »Ja, in deinen Worten mag ein Körnchen Wahrheit liegen.«
Nicht länger damit zufrieden, einfach vor der bedrohlichen Gestalt auf dem Boden zu liegen, setzte sich Rhonin auf. Er hätte sich vielleicht sogar gestellt, doch ein einfacher Blick von Deathwing schien ihn zu warnen. Zum jetzigen Zeitpunkt schien dies noch keine besonders schlaue Idee zu sein.
»Was wollt Ihr von mir?«, fragte Rhonin erneut. »Was bin ich für Euch?«
»Du bist Mittel zum Zweck, eine Möglichkeit, ein lange unerreichbares Ziel nun doch zu erreichen – ein verzweifelter Akt einer verzweifelten Kreatur …«
Zunächst verstand Rhonin nicht. Dann entdeckte er die Niedergeschlagenheit in den Zügen des Drachen. »Ihr seid … verzweifelt?«
Deathwing erhob sich wieder und breitete die Arme aus, fast als beabsichtigte er, davonzufliegen. »Was siehst du, Mensch?«
»Eine Gestalt in schattenhaftem Schwarz. Den Drachen Deathwing in einer Maske.«
»Die offensichtliche Antwort – aber siehst du nicht mehr, mein kleiner Freund? Siehst du nicht die treuen Scharen von meinesgleichen? Siehst du nicht die vielen schwarzen Drachen – oder auch die roten, die einst den Himmel beherrschten, lange vor der Geburt von Mensch oder Elf?«
Unsicher darüber, was ihm Deathwing vermitteln wollte, schüttelte Rhonin nur den Kopf. Von einer Sache jedoch war er mittlerweile überzeugt: Der Verstand war kein ständiger Gast im Bewusstsein dieses Geschöpfes.
»Du siehst sie nicht«, begann der Drache, und seine Gestalt nahm reptilienhafte Züge an. Die Augen wurden schmaler, die Zähne länger und schärfer. Selbst der verhüllte Körper wuchs, und es schien, als versuchten Schwingen durch die Robe hindurch zu brechen. Deathwing wurde erneut mehr Schatten denn Fleisch, ein magisches Wesen inmitten seiner Verwandlung gefangen.
»Du siehst sie nicht …«, begann er erneut und schloss kurz die Augen. Die Flügel, die Augen, die Zähne – alles kehrte wieder zu seiner vorherigen Form zurück. Deathwing gewann an Substanz und Menschlichkeit, letzteres jedoch war nur Täuschung, nur Maske. »Kannst sie nicht sehen, weil … sie nicht länger existieren.«
Er setzte sich. Dann streckte er eine Hand aus, die Innenfläche nach oben gerichtet. Darüber tauchten unversehens Bilder auf: Winzige drachenartige Gestalten schwebten über einer Welt voll grüner Pracht. Die Drachen flatterten in allen Farben des Regenbogens umher. Eine Stimmung überbordender Freude erfüllte die Luft und berührte selbst Rhonin.
»Die Welt war unser, und wir sorgten gut für sie. Die Magie war unser, und wir hüteten sie mit Bedacht. Das Leben war unser … und wir genossen es unbeschwert.«
Etwas Neues erschien über der Handfläche. Es dauerte ein paar Sekunden, bis der aufmerksame Magier die winzigen Gestalten als Elfen identifizierte, doch es waren keine solchen wie Vereesa. Diese Elfen waren schön auf ihre eigene Art, aber es war eine kalte, hochmütige Schönheit, eine, die ihn vom Gefühl her abstieß.
»Doch andere kamen, geringere Lebensformen, die nur winzige Lebensspannen besaßen. Allzu unbesonnen stürzten sie sich auf etwas, das, wie wir wussten, viel zu große Gefahren in sich barg.« Deathwings Stimme wurde beinahe so kalt wie die Schönheit der Nachtelfen. »Und in ihrer Torheit brachten sie die Dämonen zu uns.«
Ohne darüber nachzudenken, lehnte sich Rhonin vor. Jeder Zauberer studierte die Legenden der Dämonenhorde, die von manchen die Brennende Legion genannt wurde. Doch falls solche monströsen Geschöpfe tatsächlich einmal existiert hatten, so hatten sie keine greifbaren Spuren hinterlassen. Die meisten, die behaupteten, ihnen begegnet zu sein, waren Wesen von höchst fragwürdigem Geisteszustand gewesen.
Als der Zauberer mehr als nur einen flüchtigen Blick auf einen der Dämonen zu erhaschen versuchte, schloss Deathwing jäh seine Hand, und die Bilder versiegten.