»Ist das klug?«
»Meine hochverehrte Elfendame, Fisch ist im allgemeinen keine sehr sättigende Mahlzeit für einen wie ihn. Am Besten lässt man ihn auf eigene Faust nach etwas Angemessenem jagen. Er wird zurückkommen, sobald er seinen Hunger gestillt hat, und sollte ihn jemand sehen … nun, selbst in Khaz Modan gibt es noch hie und da ein paar wilde Greife.« Auf ihren nicht sonderlich beruhigten Blick hin, fügte Falstad hinzu: »Er wird nur kurz unterwegs sein. Gerade lange genug, um uns die Zeit zu geben, auch für uns ein Mahl zuzubereiten.«
Sie hatten Vorräte dabei, die der Zwerg sofort aufteilte. Da es einen Bach in der Nähe gab, stillten sie ihren Durst am restlichen Inhalt ihrer Wasserbeutel. Ein Feuer, so tief in orkkontrolliertem Gebiet, stand außer Diskussion, doch es schien keine kalte Nacht zu werden.
Wie vorhergesagt, kehrte der Greif bald darauf mit gut gefülltem Magen zurück. Das Tier ließ sich neben Falstad nieder, der, während er fertig aß, eine Hand sanft auf den Kopf des Geschöpfes legte.
»Ich habe zwar aus der Luft nichts gesehen«, sagte er schließlich, »doch wir haben keine Garantie, dass keine Orks in der Nähe sind.«
»Sollen wir uns mit dem Wachehalten abwechseln?«
»Das ist wohl das Beste. Soll ich die erste Schicht übernehmen oder wollt Ihr …?«
Zu aufgewühlt, um Schlaf zu finden, machte Vereesa den Anfang. Falstad hatte nichts einzuwenden und legte sich, ungerührt von den Verhältnissen, sofort hin, um binnen Sekunden einzuschlummern. Vereesa beneidete den Zwerg um dieses Talent und wünschte sich, es auch zu besitzen.
Die Nacht kam ihr, verglichen mit den Nächten in den Wäldern ihrer Kindheit, zu ruhig vor, doch sie rief sich ins Gedächtnis, dass dieses felsige Land bereits seit vielen Jahren von den Orks geplündert wurde. Sicher, es gab noch eine Tierwelt – wie der volle Magen des Greifen bewies –, doch die meisten Geschöpfe in Khaz Modan waren weit vorsichtiger als die daheim in Quel'Thalas. Sowohl die Orks, als auch ihre Drachen waren ständig auf Jagd nach Frischfleisch.
Vereinzelte funkelten ein paar Sterne am Himmel, doch ohne die herausragende Nachtsichtigkeit ihres Volkes wäre Vereesa fast blind gewesen. Sie fragte sich, wie es Rhonin wohl in dieser Dunkelheit ergehen mochte – falls er noch lebte. Streifte er auch durch die Ödnis zwischen hier und Grim Batol, oder hatte ihn Deathwing noch weit über diesen Ort hinaus getragen, vielleicht in ein Land, das der Waldläuferin völlig unbekannt war?
Sie weigerte sich zu glauben, dass er sich mit dem Dunklen verbündet haben könnte, doch wenn dem nicht so war, was wollte Deathwing dann von ihm? Oder war es möglich, dass sie Falstad zur wilden Drachenjagd angestiftet hatte, obwohl gar nicht Rhonin die wertvolle Fracht gewesen war, die der gepanzerte Leviathan transportiert hatte?
So viele Fragen und so wenige Antworten. Niedergeschlagen entfernte sich die Waldläuferin ein wenig von dem Zwerg und seinem Reittier, um einen Blick auf die umgebenden Hügel und Bäume zu wagen. Selbst mit ihrem überlegenen Sehvermögen gesegnet, ähnelte das meiste nur schwarzen Formen, was dazu beitrug, dass sie ihre Umgebung noch bedrückender und bedrohlicher empfand, obwohl der nächste Ork meilenweit entfernt sein mochte.
Das Schwert weiterhin in der Scheide, wagte sich Vereesa weiter voran. Sie erreichte zwei knorrige Bäume, in denen noch Leben steckte, wenn auch nicht mehr viel. Beide nacheinander berührend, konnte die Elfe die Schwäche fühlen, die Bereitschaft zu sterben. Sie konnte auch einen Teil ihrer Geschichte spüren, die weit über den Schrecken der Horde hinausreichte. Einst war Khaz Modan ein gesundes Land gewesen, das sich, wie Vereesa wusste, die Hügelzwerge und andere zur Heimat auserkoren hatten. Die Zwerge jedoch waren unter dem gnadenlosen Ansturm der Orks geflohen, nicht ohne zu schwören, eines Tages zurückkehren zu wollen.
Die Bäume hatten nicht fliehen können.
Die Elfe spürte, dass für die Hügelzwerge bald der Tag der Rückkehr kommen würde, doch dann würde es für diese Bäume und viele andere vermutlich zu spät sein. Khaz Modan war ein Land, das viele, viele Jahre brauchen würde, um sich zu erholen – falls das überhaupt möglich war.
»Seid tapfer«, wisperte sie den beiden zu. »Ein neuer Frühling wird kommen, das verspreche ich euch.« In der Sprache der Bäume und der aller Pflanzen, stand der Frühling nicht nur für eine Jahreszeit, sondern auch für die Hoffnung schlechthin, für die Erneuerung des Lebens.
Als die Elfe zurücktrat, wirkten beide Bäume etwas aufrechter, etwas größer. Die Auswirkung ihrer Worte auf sie ließ Vereesa lächeln. Die größeren Pflanzen verfügten über Möglichkeiten zum gemeinsamen Austausch, die sich selbst der Kenntnis der Elfen entzogen. Vielleicht würden sie die erhaltene Aufmunterung weitergeben. Vielleicht würden einige von ihnen doch überleben. Sie konnte es nur hoffen.
Ihre kurze Verbindung zu den Bäumen nahm ihr einen Teil der Last vom Herzen und von ihrem Geist. Die felsigen Hügel fühlten sich nicht länger nur unheilverkündend an. Die Schritte der Elfe waren nun leichter, und sie war zuversichtlich, dass sich die Dinge doch noch zum Besseren wenden würden, auch was Rhonin anging.
Das Ende ihrer Wache rückte schneller näher, als sie es gedacht hätte. Vereesa überlegte, ob sie Falstad länger ruhen lassen sollte – sein Schnarchen ließ auf einen gesunden Tiefschlaf schließen –, doch sie wusste auch, dass sie nur eine Belastung sein würde, wenn ihr Mangel an eigener Erholung später ihre Kampfkraft beeinträchtigte. Mit einigem Widerstreben begab sich die Elfe deshalb zu ihrem Gefährten zurück …
… und hielt inne, als das fast unhörbare Geräusch eines zerbrechenden, trockenen Astes sie davor warnte, dass sich ihr irgendetwas oder irgendjemand näherte.
Um den Überraschungsvorteil nicht aus der Hand zu geben, verzichtete sie darauf, Falstad zu wecken, und spazierte stattdessen schnurstracks an dem schlummernden Zwerg und seinem Reittier vorbei. Sie benahm sich, als sei sie von der dunklen Landschaft im Hintergrund fasziniert, und während sie schritt, hörte sie weitere leichte Bewegungen, aus der selben Richtung wie zuvor. Vielleicht nur ein harmloser Eindringling? Möglich, aber es konnte auch etwas anderes dahinterstecken. Das Geräusch konnte darauf abzielen, Vereesas Aufmerksamkeit in genau diese Richtung zu lenken, um die Entdeckung von Gegnern zu verhindern, die sich sonst wo still verbargen.
Erneut war ein verhaltenes Geräusch zu vernehmen … gefolgt von jähem, wildem Kreischen und dem Lärm, den ein mächtiger Körper, der unweit hervorsprang, verursachte.
Vereesa hielt ihre Waffe bereits in der Hand, als sie erkannte, dass es sich um Falstads Greif handelte, der aufgeschreckt worden war, und um kein monströses Ungeheuer aus dem Wald. Genau wie sie auch, hatte das Tier ein schwaches Geräusch gehört, doch im Gegensatz zu der Elfe hatte der Greif es nicht nötig, seine Verhaltensweise vorher jedes Mal sorgsam abzuwägen. Er folgte einfach dem feinen Instinkt seiner Art.
»Was ist denn los?«, knurrte Falstad und kam, für einen Zwerg bemerkenswert mühelos, auf die Beine. Er hatte bereits seinen Sturmhammer gezogen und war kampfbereit.
»Irgendetwas steckt zwischen diesen alten Bäumen. Irgendetwas, auf das sich Euer Greif gestürzt hat.«
»Nun, ich hoffe, er frisst es nicht auf, bevor wir wissen, was es ist!«
In der Dunkelheit konnte Vereesa die schattenhafte Gestalt des Greifen ausmachen, aber nicht die einer eventuellen Beute. Die Waldläuferin hörte jedoch deutlich einen weiteren Schrei, der den geflügelten Geschöpfes übertönte. Er klang fast jämmerlich.
»Nein! Nein! Weg! Runter von mir! Ich bin kein Leckerbissen, den du dir einfach schnappen kannst!«
Vereesa und Falstad eilten auf die zunehmend verzweifelter klingenden Rufe zu. Wen immer der Greif in die Ecke getrieben hatte, er stellte kaum noch eine Bedrohung dar. Die Stimme erinnerte die Elfe an jemanden, aber sie konnte nicht sagen, an wen.
»Zurück!«, befahl Falstad schließlich seinem Reittier. »Zurück, sage ich! Gehorche!«