»Trauriges Exemplar wird sich benehmen, ganz, ganz ehrlich und wahrhaftig …!«
Dadurch, dass sie die Klinge von seinem Hals löste, versuchte Vereesa den Goblin ein wenig zu beruhigen. Vielleicht konnte sie mit Höflichkeit mehr aus dem unglückseligen Wesen herausholen als mit ständiger Bedrohung. »Führe uns, wohin wir möchten, und wir werden dich frei lassen, bevor Gefahr besteht, dass dich der Drache frisst. Du hast mein Wort darauf.« Sie hielt inne. »Hast du einen Namen, Goblin?«
»Ja, Herrin, ja!« Der überdimensionale Kopf tanzte auf und nieder. »Mein Name ist Kryll, Herrin, Kryll«
»Nun, Kryll, tu was ich sage, und alles wird gut werden. Hast du das verstanden?«
Der Goblin sprang aufgeregt hin und her. »Oh ja, ja, ich verstehe gut, Herrin. Und ich versichere Euch, der Elende wird Euch genau dorthin bringen, wohin Ihr wollt!« Er schenkte ihr ein irres Grinsen. »Das verspreche ich Euch …«
11
Nekros berührte die Dämonenseele und versuchte, damit seinen nächsten Zug in entscheidender Weise zu beeinflussen. Der Ork-Kommandant hatte den größten Teil der Nacht keinen Schlaf gefunden. Der Umstand, dass Torgus von seiner Mission nicht zurückgekehrt war, zehrte an den Nerven des älteren Kriegers. Hatte er versagt? Waren beide Drachen umgekommen? Wenn ja, welche Art von Streitkräften hatten die Menschen da entsandt, um Alexstrasza zu retten? Eine Armee von Greifenreitern mit Zauberern im Schlepptau? Sicherlich konnte nicht einmal die Allianz solch ein Kontingent entbehren, nicht unter Berücksichtigung des Krieges im Norden und der internen Streitereien …
Er hatte versucht, Zuluhed mit seinen Sorgen zu erreichen, doch der Schamane hatte nicht auf sein magisches Sendschreiben geantwortet. Der Ork wusste, was das bedeutete: Die Dinge standen anderorts dermaßen schlecht, dass Zuluhed keine Zeit erübrigen konnte für das, was sich höchstwahrscheinlich nur als eine aus der Luft gegriffene Befürchtung seines Untergebenen erweisen würde. Der Schamane erwartete von Nekros, dass er wie jeder gute Ork-Krieger handelte, mit Entschlossenheit und Selbstvertrauen … was den verkrüppelten Offizier genau zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zurückbrachte.
Die Dämonenseele ließ ihn über große Macht gebieten, aber Nekros wusste, dass er nicht einmal einen Bruchteil ihres wahren Potentials verstand. Genau genommen ließ den Ork sein Grad an Unwissenheit daran zweifeln, ob er es überhaupt wagen durfte, das Artefakt zu mehr einzusetzen, als er es bisher getan hatte. Zuluhed wusste bis heute nicht, was er seinem Untergebenen da anvertraut hatte. Dem Wenigen zufolge, das Nekros im Zuge seiner eigenen Studien herausgefunden hatte, barg die Dämonenseele solch unglaubliche Kraft in sich, dass sie, mit Klugheit eingesetzt, wahrscheinlich imstande gewesen wäre, die gesamten Streitkräfte der Allianz zu vernichten, die, wie der Ork-Offizier wusste, in den nördlichen Regionen von Khaz Modan aufmarschierten.
Der Haken war nur, dass die Scheibe bei fahrlässigem Gebrauch ebenso gut ganz Grim Batol vernichten konnte.
»Gib mir eine scharfe Axt und zwei gesunde Beine, und ich würde dich mit Freuden in den nächsten Vulkan schleudern!«, murmelte er zu dem goldenen Artefakt.
In diesem Moment polterte ein lädiert aussehender Krieger in sein Quartier und ignorierte den plötzlich ungehaltenen Blick seines Kommandanten. »Torgus kehrt zurück.«
Endlich einmal gute Neuigkeiten! Der Kommandant atmete erleichtert aus. Wenn Torgus zurückkehrte, war zumindest eine Bedrohung gebannt. Nekros sprang regelrecht von seiner Bank auf. Hoffentlich hatte Torgus wenigstens einen Gefangenen machen können. Zuluhed würde dies erwarten. Ein wenig Folter, und der wimmernde Mensch würde ihnen ohne Zweifel alles erzählen, was sie über die drohende Invasion aus dem Norden wissen mussten. »Endlich. Wie lange wird es bis zu seiner Ankunft noch dauern?«
»Ein paar Minuten. Mehr nicht.« Der andere Ork setzte eine besorgte Miene auf sein hässliches Gesicht, aber Nekros überging es, begierig darauf, den mächtigen Drachenreiter willkommen zu heißen. Wenigstens Torgus hatte ihn nicht im Stich gelassen.
Er legte die Dämonenseele beiseite und eilte so schnell er konnte zu der weitläufigen Höhle, in der die Drachenreiter für gewöhnlich landeten oder abflogen. Der Krieger, der die Nachricht überbracht hatte, folgte ihm seltsam schweigend. Nekros jedoch begrüßte dieses Schweigen in seiner momentanen Stimmung. Die einzige Stimme, die er hören wollte, war die von Torgus, wenn er ihm die Nachricht vom großen Sieg über die Fremden überbrachte.
Einige andere Orks, unter ihnen die meisten der noch lebenden Drachenreiter, erwarteten Torgus bereits am breiten Eingang der Höhle. Nekros runzelte die Stirn über diesen Mangel an Ordnung, doch er wusste, dass sie, genau wie er, sehnsüchtig auf die triumphale Ankunft ihres Helden warteten.
»Macht Platz! Macht Platz!« Er drängte sich durch die Reihen der Anwesenden und starrte hinaus in das fahle Licht kurz vor Sonnenaufgang. Zunächst konnte er keinen einzigen Drachen ausmachen. Der Wachposten, der die bevorstehende Ankunft verkündet hatte, musste mit den schärfsten Augen unter allen Orks gesegnet sein. Dann aber … nach und nach … entdeckte Nekros eine dunkle Gestalt in der Ferne, die an Größe gewann, während sie sich näherte.
Nur eine? Der Ork mit dem Holzbein grunzte. Ein weiterer schwerer Verlust, aber einer, mit dem er leben konnte, jetzt da die Bedrohung besiegt war. Nekros vermochte nicht zu sagen, welcher Drache da heimkehrte, aber wie die anderen, erwartete er, dass es sich um Torgus mit seinem Reittier handelte. Niemand war in der Lage, den größten Helden von Grün Batol zu bezwingen.
Und doch … als die Umrisse deutlicher wurden, bemerkte Nekros, dass der Drache in üblem Zustand war, dass seine Flügel zerfetzt wirkten und sein Schwanz praktisch nutzlos herabhing. Blinzelnd erkannte er, dass der Leviathan zwar von einem Reiter gelenkt wurde, doch dieser Reiter saß halb zusammengesunken jm Sattel, als sei er kaum noch bei Bewusstsein.
Ein unangenehmes Kribbeln kroch über den Rücken des Kommandanten.
»Zur Seite!«, schrie er. »Zur Seite! Er wird viel Platz zum Landen brauchen!«
Tatsächlich erkannte Nekros, während er zurückwich, dass Torgus' Reittier vermutlich fast den ganzen Platz der weiten Kammer benötigen würde. Je näher der Drache kam, desto mehr wurden seine unberechenbaren Flugmanöver offenbar. Einen kurzen Moment lang dachte Nekros sogar, der Leviathan könnte gegen die Felswand prallen, so unsicher waren seine Bewegungen. Mit letzter Kraft, und vermutlich nur durch den Ansporn seines Lenkers, gelang es dem roten Ungeheuer in den Hort heimzukehren.
Mit einem Krachen landete der Drache zwischen ihnen.
Die Orks brüllten vor Überraschung und Bestürzung, als das verwundete Tier vorwärts rutschte, unfähig seine Trägheit auszugleichen. Ein Krieger wurde zur Seite geschleudert, als ein Flügel ihn streifte. Der Schwanz pendelte hin und her, schlug gegen die Wände und ließ Gesteinsbrocken von der Decke regnen. Nekros presste sich gegen eine Wand und biss die Zähne zusammen. Überall wirbelte Staub auf.
Plötzlich erfüllte Stille die Kammer, eine Stille, die dem verkrüppelten Offizier und denjenigen, die es geschafft hatten, dem Drachen aus dem Weg zu gehen, bewusst machte, dass es die riesenhafte Kreatur letztendlich nur noch bis zu ihrer Schlafstelle geschafft hatte, um dort … zu sterben.
Anders jedoch ihr Reiter. Eine Gestalt erhob sich aus dem Staub, schwankend zwar, doch nach wie vor eine eindrucksvolle Erscheinung, die sich von dem riesigen Kadaver losband und seitlich herabglitt, um fast in die Knie zu gehen, als sie den Boden erreichte. Sie spuckte Blut und Dreck aus und blickte sich dann um, so gut sie es vermochte, suchte … suchte …
… und fand Nekros.
»Wir sind verloren!«, keuchte der Tapferste und Stärkste der Drachenreiter. »Wir sind verloren, Nekros!«