Torgus' gewohnte Arroganz war durch etwas anderes ersetzt worden, etwas, das sein Kommandant mit einiger Verzögerung als tiefe Niedergeschlagenheit begriff. Torgus, der stets geschworen hatte, kämpfend unterzugehen, wirkte auf furchtbare Weise geschlagen.
Nein! Nicht er! Der ältere Ork humpelte so schnell er konnte zu seinem Helden hin, und seine Miene verfinsterte sich. »Schweig! Kein Wort mehr davon! Du bist eine Schande für die Clans! Du bist eine Schande für dich selbst!«
Torgus stützte sich so gut er es vermochte auf sein totes Reittier. »Schande? Ich bin keine Schande, Alter! Ich habe nur die Wahrheit gesprochen … und die Wahrheit ist, dass es für uns keine Hoffnung mehr gibt! Nicht hier jedenfalls!«
Nekros packte den Reiter an den Schultern und schüttelte ihn ungeachtet der Tatsache, dass der andere Ork größer und schwerer als er selbst war. »Sprich! Was veranlasst dich zu diesen verräterischen Worten?«
»Schau mich an, Nekros. Schau dir meinen Drachen an. Weißt du, wer dafür verantwortlich ist? Weißt du, gegen wen wir kämpften?«
»Eine Armada von Greifen? Ein Heer von Zauberern?«
Blutspritzer bedeckten die einst so glänzenden Ehrenabzeichen, die noch immer an Torgus' Brust geheftet hingen. Der Drachenreiter versuchte zu lachen, wurde aber von einem Hustenanfall geschüttelt. Nekros wartete ungeduldig.
»Das wäre … wäre ein ausgeglichenerer Kampf gewesen, wenn ich das sagen darf! Nein, wir sahen nur eine Handvoll Greife … vielleicht Lockvögel. Es muss so sein! Es waren zu wenige, um eine schlagkräftige Streitmacht darzustellen …«
»Vergiss es! Wer ist hierfür verantwortlich?«
»Wer?« Torgus blickte an seinem Kommandanten vorbei auf seine Kriegskameraden. »Der Tod selbst … der Tod in Gestalt eines schwarzen Drachen!«
Bestürzung breitete sich unter den Orks aus. Selbst Nekros versteifte sich bei den Worten. »Deathwing?«
»Ja, und er kämpfte für die Menschen. Er kam aus den Wolken, just als ich einen der Greife herausforderte. Wir sind ihm nur knapp entkommen.«
Es konnte nicht sein … und doch … es musste wahr sein. Torgus würde keine solch haarsträubende Lüge erfinden. Wenn er sagte, dass Deathwing dies angerichtet hatte – und die gerissenen Wunden, welche den riesigen Kadaver bedeckten, verliehen seinen Worten einiges an Glaubwürdigkeit –, dann war Deathwing der Verantwortliche für all dies.
»Erzähl mir mehr! Lass keine Einzelheit aus!«
Trotz seines Zustandes kam der Reiter der Aufforderung nach und berichtete, wie er und der andere Ork eine scheinbar unbedeutende Gruppe angegriffen hatten. Vielleicht ein Spähtrupp. Torgus hatte verschiedene Zwerge ausgemacht, eine Elfe und mindestens einen Zauberer. Schnelle Beute, zumindest hatten sie dies geglaubt, bis einer der menschlichen Krieger im Alleingang den zweiten Drachen besiegt hatte.
Doch selbst zu diesem Zeitpunkt hatte Torgus noch keine weitergehenden Schwierigkeiten erwartet. Der Zauberer hatte sich als nur vorübergehender Störfaktor erwiesen, denn er war im Verlauf des Kampfes plötzlich verschwunden, höchstwahrscheinlich in den Tod gestürzt. Torgus hatte sich der Gruppe genähert, um die Sache zu beenden.
In diesem Moment hatte Deathwing eingegriffen. Und er hatte leichtes Spiel mit Torgus' Drachen gehabt, der sich anfänglich sogar den Befehlen seine Lenkers widersetzt und den Kampf gegen alle Vernunft gesucht hatte. Selbst kein Feigling, hatte Torgus dennoch sehr wohl die Aussichtslosigkeit eines Kampfes gegen den gepanzerten Giganten erkannt. Wieder und wieder hatte er sein Reittier während des Kampfes angebrüllt, abzudrehen. Erst als die Verletzungen des roten Drachen zu massiv wurden, hatte es schließlich gehorcht und war geflohen.
Während er der Geschichte lauschte, nahmen Nekros' schlimmste Albträume Gestalt an. Der Goblin Kryll hatte mit seiner Warnung Recht behalten, dass die Allianz plante, die Drachenkönigin aus der Gefangenschaft der Orks zu befreien, doch der elende Winzling hatte es entweder nicht gewusst oder nicht für nötig erachtet, seinen Meister über die Kräfte in Kenntnis zu setzen, die für die Mission auf den Weg gebracht worden waren. Irgendwie hatten die Menschen das Undenkbare vollbracht – einen Pakt mit dem einzigen Geschöpf zu schließen, das beide Seiten sowohl achteten, als auch fürchteten.
»Deathwing …«, murmelte er.
Doch warum verschwendeten sie die Möglichkeiten des gepanzerten Leviathans für eine solche Mission? Sicherlich traf Torgus' Annahme zu, dass es sich bei der Gruppe, der er begegnet war, um Späher oder Lockvögel gehandelt hatte. Wahrscheinlich folgte ihnen eine weit größere Streitmacht auf dem Fuß.
Und plötzlich ergab für Nekros alles einen Sinn.
Er drehte sich zu den anderen Orks um und kämpfte um seine Fassung. »Die Invasion hat begonnen, aber sie betrifft nicht den Norden! Die Menschen und ihre Verbündeten marschieren zuerst gegen uns!«
Seine Krieger sahen einander voller Entsetzen an, denn sie wussten genau, dass sie es hier mit einer weit größeren Bedrohung zu tun hatten, als es sich irgendein Mitglied der Horde jemals hatte vorstellen können. Es war eine Sache, heldenhaft im Kampf zu sterben, und eine ganz andere, der sicheren Vernichtung ins Auge zu blicken.
Seine Schlussfolgerungen machten Sinn. Unerwartet von Westen her zuschlagen, den südlichen Teil von Khaz Modan erobern, die Drachenkönigin befreien oder abschlachten … Dadurch wäre den Resten der Horde im Norden, nahe Dum Algaz, ihre wichtigste Nachschubquelle genommen worden. Danach hätte man sich von Grim Batol aus langsam vorwärts bewegen können.
Eingekesselt zwischen den Angreifern aus dem Süden und denen, die sich von Dun Modr aus näherten, würden sich die letzten Hoffnungen des Ork-Volks zerschlagen und die Überlebenden in die bewachten, von den Menschen errichteten Reservate eingesperrt werden.
Zuluhed hatte ihm den Oberbefehl über alle Angelegenheiten übergeben, die den Berg und den darin gefangenen Drachen betrafen. Der Schamane hatte es nicht für nötig gehalten, auf Nekros' Nachfrage zu antworten. Er schien darauf zu vertrauen, dass dieser tat, was getan werden musste. Nun gut, Nekros würde ihn nicht enttäuschen.
»Torgus, lass dich zusammenflicken und schlaf ein wenig. Ich brauche dich später!«
»Nekros …«
»Gehorche!«
Die in Nekros' Augen schäumende Wut ließ selbst den Helden klein beigeben. Torgus nickte und machte sich, gestützt auf einen Kameraden, davon. Nekros richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die übrigen Orks. »Packt zusammen, was benötigt, und ladet es auf die Wagen! Packt alle Eier in mit Heu ausgepolsterte Kisten … und haltet sie warm!« Seine Stimme stockte, als ginge im Geist eine Liste durch. »Seid darauf vorbereitet, alle Drachenjungen zu töten, die noch zu unbändig sind, um ausgebildet zu werden!«
Torgus blieb stehen. Er und die anderen Reiter starrten ihren Anführer mit unverhohlenem Grauen an. »Die Jungen töten? Aber wir brauchen …«
»Wir brauchen alles, was rasch transportiert werden kann … für den Fall, dass …«
Der größere Ork blickte ihn an. »Für welchen Fall?«
»Für den Fall, dass ich es nicht schaffe, mit Deathwing fertig zu werden …«
Sie stierten ihn an, als wäre ihm soeben ein zweiter Kopf gewachsen, oder als hätte er sich in einen Oger verwandelt.
»Mit Deathwing fertig werden?«, knurrte einer der anderen Reiter.
Nekros suchte nach seinem Oberaufseher, jenem Ork, der ihm am häufigsten im Umgang mit der Drachenkönigin geholfen hatte. »Du! Komm mit mir! Wir müssen uns überlegen, wie wir die Mutter verlegen können!«
Torgus schien endlich zu verstehen, was vor sich ging. »Du hast vor, Grim Batol aufgeben! Du willst alles zur Front in den Norden schaffen!«
»Ja …«
»Sie werden uns einfach folgen! Deathwing wird uns folgen!«
Der Ork mit dem Holzbein schnaubte. »Du hast deine Befehle … oder bin ich auf einmal nur noch von jammernden Arbeitssklaven umgeben, statt von mächtigen Kriegern?«