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Der Seitenhieb zeigte Wirkung. Torgus und die anderen strafften sich. Nekros mochte verkrüppelt sein, aber er hatte nach wie vor die Befehlsgewalt. Sie konnten nicht anders als gehorchen, ganz gleich, für wie verrückt sie sein Vorhaben einschätzten.

Er drängte sich an dem verwundeten Helden, drängte sich an allen, die ihm im Weg standen, vorbei, während seine Gedanken sich überschlugen. Es war unbedingt notwendig, die Drachenkönigin ins Freie zu bekommen, und wenn es nur der Eingangsbereich dieser Höhle war. Damit wäre ihm bereits geholfen gewesen.

Er würde ebenso handeln, wie die Menschen gehandelt hatten. Den Köder auslegen … Und sollte er versagen, mussten wenigstens die Eier Zuluhed erreichen. Selbst wenn nur sie überdauerten, war der Horde damit gedient. Sollte Nekros tatsächlich den Sieg erringen, und mochte es auch um den Preis seines Lebens sein, dann gab es für die Orks noch Hoffnung.

Eine kräftige Hand glitt zu dem Beutel, in dem die Dämonenseele lag. Nekros Skullcrusher hatte nach den Grenzen des mysteriösen Talismans gefragt – jetzt eröffnete sich ihm die Möglichkeit, sie selbst auszuloten.

Das schwache Licht der Morgendämmerung weckte Rhonin aus dem, wie ihm vorkam, tiefsten Schlaf, den er je erlebt hatte. Mühsam rappelte sich der Zauberer auf und blickte sich in dem Versuch, seine Umgebung zu erfassen, um. Ein Waldgebiet, nicht die Schänke, von der er geträumt hatte. Nicht die Schänke, in der er und Vereesa gesessen und sich unterhalten hatten über …

Du bist wach, gut.

Die Worte tauchten ohne Vorwarnung in seinem Kopf auf und versetzten ihn beinahe in einen Schockzustand. Rhonin sprang auf die Füße und fuhr herum, ehe ihm endlich die Quelle bewusst wurde.

Er griff nach dem kleinen Medaillon, das ihm Deathwing in der Nacht zuvor ausgehändigt hatte und das nun an seinem Hals baumelte.

Ein schwaches Glühen ging von dem rauchschwarzen Kristall in seiner Mitte aus, und als Rhonin es anstarrte, kamen ihm die Ereignisse der letzten Nacht wieder ins Bewusstsein auch das Versprechen, das der Leviathan ihm gegeben hatte. Ich werde bei dir sein, um dich zuführen auf dem ganzen Weg, hatte der Drache gesagt.

»Wo bist du?«, fragte der Magier schließlich.

An einem anderen Ort, antwortete Deathwing. Doch ich bin gleichzeitig bei dir.

Der Gedanke ließ Rhonin schaudern, und er fragte sich, wieso er dem Angebot des Drachen zugestimmt hatte. Vermutlich, weil er nicht wirklich eine Wahl gehabt hatte.

»Was geschieht jetzt?«

Die Sonne geht auf. Mach dich auf den Weg.

Der Magier blickte argwöhnisch nach Osten, wo die Wälder von einer felsigen, ungastlichen Landschaft abgelöst wurden, die ihn, wie er von Landkarten her wusste, letztendlich nach Grim Batol führen würde und dort zu dem Berg, wo die Orks die Drachenkönigin gefangen hielten. Rhonin schätzte, dass ihm Deathwings Eingreifen mehrere Tagesreisen erspart hatte. Grim Batol konnte nur noch zwei, höchstens drei Tage entfernt sein, je nachdem, welches Marschtempo Rhonin vorlegte.

Er brach in die Richtung auf, in der er sein Ziel wähnte – doch nur, um augenblicklich von Deathwing gestoppt zu werden.

Das ist nicht der Weg, den du nehmen solltest.

»Warum nicht? Er führt direkt in die Berge.«

Und in die Klauen der Orks, Mensch. Bist du solch ein Narr?

Rhonin spürte Zorn ob dieser Beleidigung in sich aufwallen, doch er hielt seine Antwort zurück. Stattdessen fragte er: »Wohin dann?«

Schau …

Und im Geist des Menschen erschien ein Bild seiner momentanen Umgebung. Rhonin hatte kaum Zeit, den erstaunlichen Anblick zu verarbeiten, als bereits Bewegung in die Vision kam. Erst langsam, dann mit höherer und immer höherer Geschwindigkeit folgte sein Geist einem bestimmten Pfad, raste durch Wälder und tiefer in die felsige Landschaft hinein. Dort angekommen schlug er Haken und Sprünge, während es auf Schwindel erregende Art und Weise noch mehr beschleunigte. Felsen und Schluchten rauschten an ihm vorüber, Bäume verschwammen, während er sie passierte. In der Realität musste sich Rhonin am nächstbesten Baumstumpf festhalten, um von dem Geschehen in seinem Kopf nicht in die Knie gezwungen zu werden.

Die Hügel wurden höher, bedrohlicher und gingen schließlich in erste Bergausläufer über. Doch selbst hier verlangsamte die Fahrt nicht, bis sie sich plötzlich einem bestimmten Gipfel zuwandte, der den Zauberer trotz dessen Zögerns unwiderstehlich anzog.

Unterhalb der Bergspitze wurde Rhonins Blick so abrupt himmelwärts gerissen, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte. In seiner Vorstellung kletterte er den mächtigen Berg hinauf und nahm dabei, wie der Zauberer erkannte, sämtliche Felsvorsprünge und andere Halte in sich auf. Höher und höher ging es, bis er schließlich einen schmalen Höhleneingang erreichte …

… wo die Vision so unvermittelt endete, wie sie begonnen hatte, und einen aufgewühlten Rhonin zurückließ.

Das ist der Pfad, der einzige Pfad, der es dir erlauben wird, dein Ziel zu erreichen!

»Aber diese Route ist länger und führt durch gefährlichere Gegenden, als die, die ich nehmen wollte!« Dabei berücksichtigte er das schwierige Erklimmen der Felswand nicht einmal. Was einem Drachen als einfacher Weg erscheinen mochte, sah äußerst tückisch für einen Menschen aus, selbst wenn er mit der Gabe der Magie gesegnet war.

Du wirst Hilfe erhalten. Ich sagte nicht, dass du den ganzen Weg zu Fuß zurücklegen musst.

»Aber …«

Es wird Zeit, zu beginnen, beharrte die Stimme.

Rhonin setzte sich in Bewegung … Genau genommen begannen seine Beine ein Eigenleben zu entwickeln.

Dieser Zustand währte nur ein paar Sekunden, reichte aber völlig aus, um den Zauberer davon zu scheuchen. Als er die Kontrolle über sich zurückerlangte, wollte sich Rhonin nicht ein weiteres Mal ermahnen lassen, und so setzte er den eingeschlagenen Weg freiwillig fort. Deathwing hatte ihm eindrucksvoll demonstriert, wie stark die Verbindung zwischen ihnen war.

Der Drache sprach nicht wieder, aber Rhonin wusste, dass Deathwing irgendwo in seinem Hinterkopf lauerte. Bei aller Macht, die der schwarze Leviathan demonstriert hatte, schien er doch keine vollständige Kontrolle über Rhonin zu besitzen. Zumindest dessen Gedanken blieben seinem drakonischen Verbündeten dem Anschein nach verborgen. Ansonsten wäre Deathwing wohl genau in diesem Augenblick nicht sehr zufrieden mit dem Zauberer gewesen, denn dieser arbeitete bereits daran, eine Möglichkeit zu finden, sich vom Einfluss des Drachen zu befreien.

Seltsam, noch letzte Nacht war er mehr als bereit gewesen, das meiste von dem zu glauben, was ihm Deathwing erzählt hatte, selbst den Teil, der das Bedürfnis des Schwarzen betraf, Alexstrasza zu retten. Jetzt hingegen setzte sein gesunder Menschenverstand ein. Von allen Geschöpfen war Deathwing sicherlich dasjenige, das sich am wenigsten wünschte, seine größte Rivalin befreit zu sehen. Hatte er nicht den ganzen Krieg hindurch nach der Vernichtung ihrer Gattung gestrebt?

Doch Rhonin erinnerte sich, dass Deathwing auch diesen Punkt zum Ende ihrer Unterhaltung hin angesprochen hatte.

»Die Kinder von Alexstrasza wurden von Orks aufgezogen, Mensch. Sie wurden gegen alle anderen Geschöpfe abgerichtet. Ihre Freiheit könnte nicht ändern, wozu sie geworden sind. Sie würden weiterhin ihren Herren dienen. Ich töte sie, weil es keine andere Wahl gibt … verstehst du das?«

Und zu jenem Zeitpunkt hatte Rhonin verstanden. Alles, was ihm der Drache letzte Nacht erzählt hatte, hatte so wahr geklungen. Doch bei Tage betrachtet, zweifelte der Zauberer an der Tiefe jener Wahrheiten. Deathwing mochte alles so gemeint haben, wie er es gesagt hatte, dies bedeutete jedoch nicht, dass es keine anderen, dunkleren Ursachen für sein Handeln gab.