Rhonin erwog, das Medaillon abzunehmen und einfach fortzuwerfen. Dies würde allerdings mit Sicherheit die Aufmerksamkeit seines unerwünschten Verbündeten auf sich ziehen, und es wäre ein Leichtes für Deathwing, ihn aufzuspüren. Der Drache hatte bereits bewiesen, wie schnell er sein konnte. Rhonin bezweifelte außerdem, dass der gepanzerte Gigant ihm noch als Freund begegnen würde, wenn er Deathwing zu einer Verfolgung zwang.
Im Augenblick konnte er nichts weiter tun, als dem vorgegebenen Pfad zu folgen. Rhonin fiel ein, dass er keine Vorräte bei sich hatte, nicht einmal einen Wasserschlauch, denn diese Dinge ruhten nun gemeinsam mit dem glücklosen Molok und dessen Greif auf dem Grund des Meeres. Deathwing hatte es offenbar nicht für nötig gehalten, den Zauberer mit irgendetwas auszustatten; die Nahrung und die Getränke, die ihm der Drache letzte Nacht gereicht hatte, schienen alles an Unterstützung zu sein, was Rhonin erwarten konnte.
Ununterbrochen marschierte Rhonin vorwärts. Deathwing wollte, dass er die Berge erreichte; so weit deckten sich seine Ziele mit denen des Magiers. Irgendwie würde es Rhonin dorthin schaffen.
Während er sich durch das zunehmend tückischer werdende Terrain bewegte, konnte er nicht verhindern, dass seine Gedanken zu Vereesa zurückkehrten. Die Elfe hatte eine bewundernswerte Ausdauer bewiesen, doch mittlerweile war sie gewiss auf der Rückreise – wenn sie den Angriff überhaupt überlebt hatte. Bei dem Gedanken, dass die Waldläuferin umgekommen sein könnte, spürte Rhonin einen unerwarteten Kloß in seinem Hals. Er kam ins Straucheln, fing sich aber wieder. Nein, sie hatte ganz bestimmt überlebt, und der gesunden Elfenverstand hatte ihr geraten, nach Lordaeron und zu ihresgleichen zurückzukehren.
Ganz sicher …
Rhonin hielt inne, denn plötzlich war er von dem dringenden Bedürfnis erfüllt, umzukehren. Er hegte den starken Verdacht, dass Vereesa nicht auf ihren gesunden Elfenverstand gehört, sondern vielmehr darauf bestanden hatte, ihre Mission fortzusetzen. Und vielleicht hatte sie sogar den schwer beeinflussbaren Falstad überzeugen können, sie nach Grim Batol zu fliegen. Wenn ihr nichts zugestoßen war, mochte Vereesa also immer noch an seiner Fährte kleben und langsam zu ihm aufholen.
Der Zauberer machte einen Schritt Richtung Westen, als …
Mensch!
Rhonin schluckte einen Fluch hinunter, als Deathwings Stimme seinen Kopf erfüllte. Wie hatte der Drache so schnell aufmerksam werden können? Vermochte er die Gedanken des Magier etwa doch zu lesen?
Mensch … Es ist Zeit, dass du dich ausruhst und isst.
»Was … was meinst du?«
Du hast inne gehalten. Du hast dich nach Wasser und Nahrung umgeschaut, oder nicht?
»Ja.« Er sah keinen Grund, dem Drachen die Wahrheit zu sagen.
Du bist nicht mehr weit davon entfernt. Wende dich erneut nach Osten und marschiere noch ein paar Minuten weiter. Ich werde dich leiten.
Rhonin hatte die Gelegenheit ungenutzt verstreichen lassen. Nun gehorchte er. Entlang des zerklüfteten Pfades erreichte er einen kleinen Flecken Grün mitten im Nirgendwo. Erstaunlich, wie sich selbst in den ungastlichsten Ecken von Khaz Modan das Leben behauptete. Schon für den Schatten, den er hier fand, war Rhonin seinem unerwünschten Verbündeten in diesem Augenblick dankbar.
In der Mitte des Hains wirst du finden, wonach es dich sehnt …
Gewiss nicht alles, wonach es ihn sehnte, aber das konnte der Zauberer Deathwing nicht sagen. Trotzdem ging Rhonin schneller. Die Aussicht auf Nahrung und Wasser beschwingte ihn. Und ein paar Minuten Rast würden ihm sicher auch gut tun.
Die Bäume waren mit nur zwölf Fuß Höhe vergleichsweise klein gewachsen, boten aber ausreichend Schatten. Rhonin betrat den Hain und sah sich unverzüglich um. Sicher gab es hier einen Bach und vielleicht ein paar Früchte; was sonst konnte Deathwing ihm aus der Ferne anbieten?
Wie sich herausstellte, ein Festessen. Denn genau in der Mitte der bewaldeten Fläche erwartete Rhonin eine kleine Auswahl an Nahrung und Getränken, wie er sie hier nie und nimmer zu finden erhofft hätte. Gebratener Hase, frisches Brot, mundgerecht zerteilte Früchte und – er berührte das Trinkbehältnis voller Ehrfurcht – kühles Wasser.
Iss!, forderte ihn die Stimme des Drachen auf.
Rhonin gehorchte mit Vergnügen und stürzte sich auf das Überraschungsmahl. Der Hase war frisch zubereitet und vollendet gewürzt; dem Brot haftete noch der angenehme Ofengeruch an. Alle guten Manieren vergessend, trank er direkt aus dem Krug … und entdeckte, dass, obwohl der Behälter danach halbleer hätte sein sollen, er weiterhin randvoll blieb. Daraufhin stillte Rhonin seinen Durst ohne jede Zurückhaltung und im Bewusstsein, dass sich Deathwing um sein Wohlergehen kümmerte – solange der Zauberer nur bestrebt blieb, den Berg erreichte.
Auch mittels eigener Magie hätte er etwas beschwören können, doch das hätte ihn Kraft gekostet, die er vielleicht noch anderweitig brauchen würde. Davon abgesehen bezweifelte Rhonin, dass er in der Lage gewesen wäre, ein vergleichbar üppiges Mahl herbeizuzaubern, zumindest nicht ohne beträchtliche Anstrengung.
Früher als erhofft meldete sich Deathwing wieder. Bist du gesättigt?
»Ja … ja, das bin ich. Habt Dank.«
Es wird Zeit, weiterzugehen. Du kennst den Weg.
Rhonin kannte den Weg. Genau genommen konnte er die gesamte Route, die ihm der Drache gezeigt hatte, vor seinem inneren Auge sehen. Deathwing hatte offenbar sichergehen wollen, dass seine Marionette nicht die falsche Richtung einschlug.
Da er ohnehin keine andere Wahl hatte, gehorchte der Zauberer. Er hielt nur noch so lange inne, um einen letzten Blick hinter sich zu werfen – gegen alle Vernunft hoffte er, in der Ferne einen vertrauten silbernen Haarschopf ausmachen zu können. Er war hin und her gerissen, denn gleichzeitig wünschte er sich, dass ihm weder Vereesa noch Falstad folgten. Duncan und Molok waren bereits im Zuge der Mission umgekommen, und zu viele andere Tode lasteten ebenfalls schon auf Rhonins Schultern.
Der Tag ging zur Neige. Als sich die Sonne dem Horizont näherte, begann Rhonin die von Deathwing gewählte Route in Frage zu stellen. Er hatte nicht einen einzigen Wachposten zu Gesicht bekommen, geschweige denn dass er mit einem Ork konfrontiert worden wäre, über die Grim Batol mit Sicherheit noch immer verfügte. Genau genommen hatte er nicht mal einen einzelnen Drachen gesehen. Entweder patrouillierten sie nicht länger in den Lüften, oder der Zauberer bewegte sich bereits außerhalb ihres Wirkungskreises.
Die Sonne sank tiefer. Selbst ein zweites Mahl, wiederum von Deathwing herbeigezaubert, konnte Rhonin nicht froher stimmen. Als das letzte Tageslicht verging, blieb er stehen und versuchte, die sich vor ihm erstreckende Landschaft zu überblicken. Die einzigen Berge, die er ausmachen konnte, befanden sich immer noch viel zu weit entfernt. Es würde mehrere Tage dauern, ihre Ausläufer zu erreichen, ganz zu schweigen von der Gipfelregion, wo die Orks ihre Drachen hielten.
Nun, Deathwing hatte ihn bis zu diesem Punkt geführt, dann sollte er ihm auch erklären, wie er zu der Ansicht gelangt war, ein Mensch wie Rhonin könnte das angestrebte Ziel in absehbarer Zeit erreichen.
Er griff nach dem Medaillon, hielt den Blick jedoch weiterhin auf die fernen Berge gerichtet und sprach in die Luft: »Ich muss mit Euch reden.«
Sprich!
Er hatte nicht wirklich geglaubt, dass diese Methode funktionieren würde. Bis jetzt war es stets der Drache gewesen, der den Kontakt hergestellt hatte, nicht umgekehrt. »Ihr sagtet, dieser Pfad würde mich zu den Bergen führen, doch wenn dem tatsächlich so ist, wird der Weg weit mehr Zeit in Anspruch nehmen, als ich mir leisten kann. Ich weiß nicht, wie Ihr glauben konntet, dass ich den Gipfel zu Fuß in angemessener Frist erreiche.«