Wie ich bereits sagte, wirst du nicht die ganze Strecke auf derart primitive Weise zurücklegen müssen. Die Vision, die ich dir schickte, hatte nur den Zweck, dir einen sicheren Weg zu weisen und so zu helfen, nicht von selbigem abzukommen.
»Also wie soll ich den Gipfel erreichen?«
Geduld. Sie werden bald bei dir sein.
»Sie?«
Bleib, wo du bist. Das wird das Beste sein.
»Aber …« Rhonin erkannte, dass Deathwing nicht länger bei ihm war. Erneut spielte der Zauberer mit dem Gedanken, sich das Medaillon vom Hals zu reißen und es zwischen die Felsen zu werfen – aber was hätte er davon gehabt? Rhonin musste so oder so den Hort der Orks erreichen.
Wen mochte Deathwing gemeint und angekündigt haben?
Plötzlich hörte er ein Geräusch; ein Geräusch, wie er es noch nie zuvor vernommen hatte. Sein erster Gedanke war, dass es ein Drache sein könnte, doch wenn das zutraf, handelte es sich um einen Drachen mit einer furchtbaren Magenverstimmung …
Rhonin blickte in den dunkler werdenden Himmel und sah zunächst gar nichts. Dann weckte ein kurzer Lichtblitz seine Aufmerksamkeit, genau über ihm.
Rhonin fluchte, weil er befürchtete, dass Deathwing ihn in eine Falle gelockt hatte, um ihn den Orks auszuliefern. Wahrscheinlich stammte das Licht von irgendeiner Fackel oder einem Kristall in der Hand eines Drachenreiters.
Der Zauberer bereitete einen Spruch vor; kampflos würde er sich nicht ergeben, ganz gleich, wie sinnlos jeder Widerstand auch sein mochte.
Erneut blitzte das Licht auf, diesmal länger. Rhonin fand sich kurzzeitig angeleuchtet, was ein noch leichteres Ziel aus ihm machte für das, was in der Dunkelheit über ihm lauerte.
»Sagte dir doch, dass er sich hier herumtreibt!«
»Ich wusste es die ganze Zeit! Wollte nur sehen, ob du es auch wusstest!«
»Lügner! Ich wusste es, du nicht! Ich wusste es ganz allein!«
Der junge Magier verzog den Mund. Was für eine Sorte Drache stritt mit sich selbst in so geistloser Weise und noch dazu in diesem schrillen Tonfall?
»Pass auf die Lampe auf!«, rief eine der Stimmen.
Der Lichtkegel sprang von Rhonin weg und zuckte aufwärts. Einen kurzen Moment erhellte der Strahl einen großen, ovalen Umriss – eine Stelle weit vorne an der sichtbar werdenden Konstruktion –, bevor er zum Heck huschte, wo der Zauberer eine rauchende, rülpsende Apparatur ausmachte, die einen Propeller am Ende des Ovals antrieb.
Ein Ballon!, erkannte Rhonin. Ein Luftschiff!
Er hatte bereits einmal eines dieser bemerkenswerten Fahrzeuge gesehen, zur Hochzeit des Krieges. Erstaunliche gasgefüllte Säcke von solch riesenhaften Ausmaßen, dass sie tatsächlich einen offenen Korb für zwei bis drei Fahrer anheben konnten. Im Krieg waren sie zur Auskundschaftung gegnerischer Truppen zu Lande, aber auch auf hoher See eingesetzt worden. Was Rhonin am meisten daran verblüffte, war nicht ihre schlichte Existenz, sondern dass sie von etwas anderem als Magie angetrieben wurden – von Öl und Wasser. Eine Maschine, die weder durch Magie erschaffen worden war, noch ihrer bedurfte, trieb den Ballon an; eine bemerkenswerte Apparatur, die den dazugehörigen Propeller ohne Einsatz von Manneskraft bewegte.
Das Licht kehrte zu Rhonin zurück und blieb diesmal an ihm haften. Die Lenker des fliegenden Ballons hatten ihn nun fest im Blick und offenbar nicht die Absicht, ihn wieder zu verlieren. Erst jetzt erinnerte sich der faszinierte Magier, welche Rasse sowohl die Genialität, als auch jenen Hauch von Wahnsinn in sich vereinte, um ein derartiges Gefährt zu ersinnen.
Goblins – und Goblins dienten der Horde.
Er rannte auf die größeren Felsen zu und hoffte, sich wenigstens so lange verstecken zu können, bis er einen Zauber, der fliegenden Ballons angemessen war, aus dem Gedächtnis gekramt hatte, doch in diesem Augenblick hallte Deathwings vertraute Stimme durch seinen Kopf.
Bleib!
»Ich kann nicht. Da oben sind Goblins! Ich wurde von ihrem Luftschiff entdeckt. Sie werden die Orks alarmieren!«
Du wirst dich nicht vom Fleck weg bewegen!
Fortan weigerten sich Rhonins Beine, ihm weiterhin zu gehorchen. Sein Körper drehte sich um, dem phantastischen Ballon und seinen noch phantastischeren Piloten zu. Das Gefährt sank herab, bis es sich dicht über dem Kopf des unglücksseligen Zauberers befand. Eine Strickleiter wurde über den Rand des Korbs geworfen und verfehlte Rhonin nur knapp.
Damit wäre dein Transportmittel also eingetroffen, eröffnete ihm Deathwing.
12
»Lord Prestors Krönung scheint fast unausweichlich«, erstattete die schattenhafte Gestalt in der smaragdgrünen Kugel Krasus Bericht. »Er besitzt eine geradezu unglaubliche Überzeugungsgabe. Ihr habt Recht, er muss ein Zauberer sein.«
Von der Mitte seines Sanktuariums aus blickte Krasus in die Kugel. »Es wird einiges an Beweisen erfordern, um die Monarchen zu überzeugen. Ihr Misstrauen gegenüber den Kirin Tor wächst von Tag zu Tag … und auch dahinter kann nur dieser Möchtegernkönig stecken.«
Die ältere Sprecherin, ebenfalls Angehörige des Inneren Rats, nickte. »Wir haben begonnen, ihn zu überwachen. Die einzige Schwierigkeit ist, dass sich Prestor schwer lokalisieren lässt. Er scheint in der Lage zu sein, seinen Wohnsitz zu betreten und zu verlassen, wann immer er will, ohne dass wir es erfahren.«
Krasus täuschte leichte Verblüffung vor. »Wie ist das möglich?«
»Wir wissen es nicht. Schlimmer noch, sein Schloss wird von ziemlich hässlichen Zaubersprüchen geschützt. Wir hätten beinahe Drenden an eine dieser Überraschungen verloren.«
Dass Drenden, der bärtige Magier mit der Baritonstimme, beinahe einer von einer von Deathwings Fallen den Garaus gemacht bekommen hätte, bestürzte Krasus für einen Augenblick. Trotz Drendens polternder Art, achtete der Drache die Fähigkeiten des anderen Magiers. Drenden in einer Zeit wie dieser zu verlieren, konnte sich als folgenschwer erweisen.
»Wir müssen mit Bedacht fortfahren«, drängte er. »Ich werde bald wieder mit Euch sprechen.«
»Was plant Ihr, Krasus?«
»Einen Ausflug in die Vergangenheit des jungen Edelmannes.«
»Ihr glaubt, dort werdet Ihr etwas Interessantes finden?«
Der vermummte Zauberer zuckte mit den Schultern. »Wir können nur darauf hoffen.«
Er entließ ihr Bild und lehnte sich zurück, um nachzudenken. Krasus bedauerte, dass er die Ratsmitglieder in die Irre leiten musste, auch wenn es zu ihrem eigenen Besten war. Wenigstens würden ihre Einmischungen in Deathwings »weltliche« Angelegenheiten zur Folge haben, dass der Schwarze abgelenkt wurde. Das verschaffte Krasus etwas mehr Zeit. Er betete nur, dass sich niemand sonst so weit vorwagen würde, wie es Drenden getan hatte. Die Kirin Tor würden ihre ganze Stärke benötigen, falls sich die anderen Königreiche gegen sie wandten.
Sein eigener Ausflug zu Malygos hatte wenig zufriedenstellend geendet. Malygos hatte nur versprochen, über sein Anliegen nachzudenken. Krasus vermutete, dass der Große Drache glaubte, er könne sich um Deathwing kümmern, sobald ihm die rechte Zeit dafür gekommen schien. Der silberblaue Leviathan erkannte nicht, dass Zeit ein Luxus war, den sich keiner der Drachen im Moment leisten konnte. Wenn Deathwing nicht jetzt gestoppt werden konnte, würde es vielleicht nie gelingen.
Womit Krasus nur eine Wahl blieb, die ihm wenig behagte.
»Ich muss es tun …« Er musste die anderen Großen aufsuchen, die anderen Kräfte. Konnte er einen von ihnen überzeugen, mochte er auch von Malygos die versprochene Hilfe erhalten.
Dennoch, die Unterstützung der Träumenden zu erringen, war eine schwierige Sache. Krasus beste Erfolgsaussichten bestanden in einer Kontaktaufnahme mit dem Herren der Zeit – dessen Diener das Ansinnen des Zauberers jedoch bereits mehr als einmal abgewiesen hatten.