Aber was konnte er anderes tun, als es erneut zu versuchen?
Krasus erhob sich und eilte auf ein Regal zu, auf dem eine Menge Gegenstände seiner Profession in Phiolen und Flaschen angeordnet standen. Sein Blick huschte über Reihe um Reihe von Gläsern und glitt dabei über Substanzen und magische Artefakte, auf die andere Angehörige der Kirin Tor voller Neid geschaut und sich vermutlich mehr als nur neugierig gefragt hätten, wie er in den Besitz der betreffenden Dinge gekommen war. Wenn sie jemals erkannten, wie lange er bereits in den Künsten bewandert war …
Da! Eine kleine Flasche, die eine einzelne vertrocknete Pflanze enthielt, ließ ihn inne halten.
Die Ewigkeitsrose. Nur an einem einzigen Platz auf der ganzen Welt war sie zu finden. Krasus hatte sie persönlich gepflückt, um sie seiner Herrin, seiner Liebe, zu schenken. Krasus hatte sie geschützt, als die Orks den Hort stürmten und, zu seiner völligen Verblüffung, sie und die anderen in die Gefangenschaft verschleppten.
Die Ewigkeitsrose. Fünf Blütenblätter von auffällig unterschiedlicher Farbgebung, die ein goldenes Rund in der Mitte umgaben. Als Krasus den Deckel der Flasche anhob, wurde ihm ein schwacher Duft entgegengetragen, der ihn unvermittelt an seine Jugendtage erinnerte. Mit einigem Zögern griff er hinein, nahm die verwelkte Blüte in die Hand …
… und staunte, als in dem Moment, da seine schlanken Finger sie berührten, sie plötzlich zu ihrem legendären Glanz zurückfand.
Feuerrot. Smaragdgrün. Schneesilber. Tiefseeblau. Mitternachtsschwarz. Jedes Blütenblatt erstrahlte in einer Schönheit, wie sie nur Künstler erträumen konnten. Kein anderer Gegenstand konnte ihre natürliche Schönheit übertreffen, keine andere Blume hatte einen so wundervollen Duft.
Krasus hielt für einen Moment den Atem an, bevor er die wunderbare Blüte zerquetschte.
Er ließ die Teile in seine andere Hand fallen. Ein Kribbeln breitete sich bis zu den Fingern hin aus, aber der Drachenmagier beachtete es nicht. Er hielt die Überreste hoch über seinen Kopf und murmelte Worte der Macht – dann warf er das, was von der sagenumwobenen Rose übrig war, auf den Boden.
Doch als die zerdrückten Blüten den Stein berührten, verwandelten sie sich plötzlich in Sand, Sand, der sich über den ganzen Kammerboden ausbreitete, die Kammer selbst füllte, über sie hinwegspülte, alles bedeckte, alles zerfraß …
… und Krasus unvermittelt in der Mitte einer endlosen, wirbelnden Wüste stehen ließ.
Solch eine Wüste jedoch hatte noch kein Sterblicher – oder Krasus – je erblickt. So weit das Auge reichte, lagen Reste von Gemäuern, zerbrochene und geschliffene Statuen sowie verrostete Waffen verstreut, und sogar – der Magier stand wie erstarrt davor – die halbvergrabenen Knochen eines riesenhaften Untiers, das zu Lebzeiten selbst Drachen zu Zwergen hätte verblassen lassen. Es gab auch Bauten, und obgleich man zunächst annehmen mochte, sie und all die Relikte um sie herum wären allesamt Teil ein und derselben Hochzivilisation, enthüllte ein zweiter Blick, dass kein Gebäude wirklich zum anderen gehörte. Ein schwankender Turm, wie er von den Menschen in Lordaeron hätte errichtet sein können, überschattete ein gewölbtes Bauwerk, das eindeutig den Zwergen zuzuordnen war. Etwas weiter entfernt zeugte ein Bogentempel mit eingestürztem Dach von Azeroths verlorenem Königreich. In Krasus' Nähe stand eine eher düstere Heimstatt, die Unterkunft irgendeines Ork-Häuptlings.
Ein Schiff, groß genug für gut ein Dutzend Männer, stand auf einer Düne, die hintere Hälfte unter Sand begraben. Rüstungen aus der Regierungszeit des ersten Königs von Stromgard bedeckten eine andere, kleinere Düne. Die gebeugte Statue eines Elfen-Priesters schien für die Rüstungen und das Schiff letzte Gebete zu sprechen.
Ein eindrucksvolles, unheimliches Bild, das selbst Krasus inne halten ließ. Tatsächlich ähnelte die Szenerie um den Zauberer herum der makabren Antiquitätensammlung einer mächtigen Gottheit … was gar nicht so weit an der Wahrheit vorbeiging.
Keines der Artefakte gehörte in dieses Reich, genau genommen hatte kein Volk, keine Zivilisation hier jemals das Licht der Welt erblickt. All die Wunder, die sich vor dem Zauberer offenbarten, waren äußerst akribisch und über einen Zeitraum von zahllosen Jahrhunderten von überall auf der Welt hier zusammengetragen worden. Krasus traute kaum seinen Augen, denn allein das Ausmaß des Unterfangens brachte seine Vorstellungskraft ins Wanken. So viele unglaublich massiv, so viele unglaublich zerbrechlich Relikte räumlich zu versetzen …
Doch ungeachtet all dessen, ungeachtet der Sensation, die sich seinen Augen bot, erwachte leichte Ungeduld in Krasus, während er wartete. Und wartete. Und immer länger wartete, ohne das geringste Zeichen dafür, dass irgend jemand seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte.
Seine Geduld, bereits durch die Ereignisse der vergangenen Wochen strapaziert, gelangte schließlich an ihr Ende.
Er richtete seinen Blick auf die steinernen Züge einer mächtigen Statue, halb Mensch, halb Stier, deren linker Arm nach vorne stieß, als fordere sie den Besucher auf, wieder zu gehen, und rief aus: »Ich weiß, dass Ihr hier seid, Nozdormu! Ich weiß es! Ich muss mit Euch sprechen!«
In dem Augenblick, da der Drachenmagier verstummte, kam Wind auf, wirbelte Sand durch die Luft und nahm ihm die Sicht. Krasus hielt dem ausgewachsenen Sandsturm stand, der unvermittelt über ihn hinwegfegte. Der Wind heulte so laut, dass der Magier sich die Ohren zuhalten musste. Der Sturm schien entschlossen, ihn hochzuheben und fortzuschleudern, doch der Zauberer kämpfte dagegen an und setzte sowohl Magie, als auch seine Körperkraft ein, um an Ort und Stelle zu bleiben. Er würde nicht weichen, nicht bevor er gesprochen hatte!
Schließlich schien der Sandsturm zu erkennen, dass er ihn nicht abschrecken konnte. Er entfernte sich von ihm und richtete seine Wucht nun gegen eine nicht weit entfernte Düne. Ein Staubtrichter stieg auf, und ragte bald höher und höher in den Himmel.
Der Trichter nahm Gestalt an … die Gestalt eines Drachen. Groß wie Malygos, bewegte und streckte die sandige Schöpfung ihre graubraunen Schwingen. Der Sand fuhr fort, die Ausmaße des Drachens zu vergrößern, doch es war ein Sand, der scheinbar mit Goldstaub vermischt war, denn mehr und mehr glitzerte der Leviathan, der sich vor Krasus formte, im gleißenden Licht der Wüstensonne.
Der Wind verebbte, dennoch verlor der drachenartige Gigant nicht ein einziges Sand- oder Goldkorn. Die Schwingen schlugen kräftig, und der Hals reckte sich empor. Augenlider öffneten sich und enthüllten funkelnde Edelsteine von der Farbe der Sonne.
»Korialstraszzzz …!«, spie der sandige Drache hervor. »Du wagssst es, meine Ruhe zu stören? Du wagssst es, meinen Frieden zu stören?«
»Ich wage es, weil ich es muss, oh großer Herr der Zeit!«
»Titel werden meinen Zorn nicht besssänftigen … Es wäre das Beste, wenn du gehst …« Die Edelsteine loderten hell auf. »… wenn du jetzt gehst!«
»Nein! Nicht, bevor ich zu Euch über eine Gefahr sprechen konnte, die alle Drachen betrifft! Alle Lebewesen!«
Nozdormu schnaubte. Eine Wolke aus Sand hüllte Krasus ein, doch seine Magie schützte ihn. Man konnte nie sicher sein, welcher Zauber im Reich von Nozdormu jedem noch so kleinen Sandkorn innewohnte. Ein wenig Sand mochte bereits ausreichen, um die Geschichte eines Drachen namens Korialstrasz umzugestalten. Krasus würde einfach aufhören zu existieren, und nicht einmal seine geliebte Herrin würde sich mehr an ihn erinnern.
»Drachen, sagst du? Wasss geht dich das an? Ich sehe nur einen Drachen hier und das issst sicherlich nicht der sterbliche Zauberer Krasusss – nicht mehr! Fort mit dir! Ich will zu meiner Sammlung zurückkehren! Du hast bereits zu viel meiner kossstbaren Zeit verschwendet!« Eine Schwinge strich behutsam über die Statue des Stiermannes. »Ssso viel zu sammeln, ssso viel zu ordnen …«