Es machte Krasus plötzlich wütend, dass sein Gegenüber, einer der Größten der fünf Kräfte, durch den die Zeit selbst strömte, dass dieser Drache sich nicht darum scherte, was in Gegenwart oder Zukunft geschah. Nur seine wertvolle Sammlung aus der Vergangenheit der Welt bedeutete dem Leviathan etwas.
Er sandte seine Diener aus, um zusammenzutragen, was immer sie finden konnten – nur, damit ihr Herr sich mit dem umgeben konnte, was einst gewesen war – und um das zu ignorieren, was war oder sein würde.
Nur, damit er auf seine ganz eigene Weise das Ende ihrer Art übergehen konnte, genau wie es auch Malygos tat.
»Nozdormu!«, schrie Krasus und forderte damit erneut die Aufmerksamkeit des glitzernden Sanddrachens ein. »Deathwing lebt!«
Zu seinem Entsetzen nahm Nozdormu diese schreckliche Nachricht ohne besondere Regung auf. Der goldbraune Gigant schnaubte erneut und schickte der kleineren Gestalt eine zweite Sandwolke entgegen. »Ja …und?«
Betroffen platzte es aus Krasus heraus: »Ihr … wisst es bereits?«
»Eine Frage, die nicht einmal eine Antwort wert issst. Nun, wenn es nichts anderes gibt, womit du mich belästigen willst, issst die Zeit für deine Abreise gekommen.« Der Drache hob den Kopf, und seine Juwelenaugen loderten auf.
»Wartet!« Auch noch den letzten Hauch von Würde aufgebend, schwenkte der Zauberer seine Arme hin und her. Zu seiner Erleichterung hielt Nozdormu inne, brach den Zauber ab, den er hatte anwenden wollen, um sich des lästigen Wurms zu entledigen. »Wenn Ihr wisst, dass der Dunkle lebt, wisst Ihr auch, was er beabsichtigt! Wie könnt Ihr das übergehen?«
»Weil, wie alle Dinge, Deathwing mit der Zeit vergehen wird … selbst er wird schließlich einmal ein Teil … meiner Sammlung …«
»Aber wenn Ihr Euch zusammenschließt …«
»Du hattessst deine Zeit zu sprechen.« Der glitzernde Sanddrachen erhob sich höher; Wüstensand wurde aufgewirbelt, der ihn an Größe und Gestalt noch zunehmen ließ. Von den Winden losgerissen, vereinten sich einige der kleineren Objekte aus Nozdormus bizarrer Sammlung mit dem Sand und wurden vorübergehend selbst ein Teil des Drachens. »Nun lass mich allein …«
Die Winde umpeitschten Krasus – nur Krasus. So sehr er es auch versuchte, gelang es dem Drachenzauberer diesmal nicht, aufrecht stehen zu bleiben. Er stolperte nach hinten, wurde wieder und wieder von den grimmigen Windböen attackiert.
»Ich kam her um unser aller Willen!« gelang es ihm zu schreien.
»Du hättessst meine Ruhe nicht ssstören sollen. Du hättesst überhaupt nicht kommen sollen …« Die funkelnden Edelsteine flammten neuerlich auf. »Das wäre wirklich das Bessste für uns alle gewesen …«
Eine Säule aus Sand schoss aus dem Boden und umfing den hilflosen Zauberer. Krasus konnte nichts mehr sehen, und das Atmen wurde unmöglich. Er versuchte, einen Zauber zu wirken, um sich zu schützen, doch gegen die Macht einer der Kräfte, gegen den Herren der Zeit, erwiesen sich selbst seine beträchtlichen Fähigkeiten als nichtig.
Nach Luft ringend, gab Krasus schließlich auf. Sein Bewusstsein schwand, er sank zu Boden …
… und sah voller Schrecken, wie die Blüten der Ewigkeitsrose, ohne das geringste zu bewirken, auf den Steinboden seines Sanktuariums fielen.
Der Zauber hätte wirken sollen! Krasus hätte ins Reich von Nozdormu, dem Herren der Jahrhunderte, gebrachte werden sollen. So wie Malygos die Magie selbst verkörperte, so stellte Nozdormu Zeit und Zeitlosigkeit dar. Als einer der Größten der fünf Kräfte hätte er einen machtvollen Verbündeten abgegeben, vor allem wenn sich Malygos plötzlich entscheiden sollte, erneut in den Wahnsinn abzudriften. Ohne Nozdormu schwanden Krasus' Aussichten auf Erfolg erheblich …
Niederkniend sammelte der Magier die Blütenblätter ein und wiederholte den Zauber. Seine Bemühungen wurden Krasus nur mit furchtbaren Kopfschmerzen vergolten. Wie konnte das bloß sein? Er hatte alles richtig gemacht! Der Zauber hätte wirken müssen … es sei denn, Nozdormu hatte irgendwie Wind von der Absicht des Magiers bekommen, bei ihm vorstellig werden zu wollen, und hätte einen Gegenzauber ausgesprochen, um Krasus davon abzuhalten, sein sandiges Reich zu betreten.
Krasus fluchte. Ohne die Möglichkeit, Nozdormu zu besuchen, gab es keine Hoffnung mehr, auch wenn sie ohnehin von Anfang an sehr gering gewesen sein mochte, den mächtigen Drachen für seine Pläne zu gewinnen. Damit blieb nur die Träumende übrig … die Flüchtigste aller Kräfte und die Einzige, die er in seinem ganzen langen Leben noch niemals gesprochen hatte.
Krasus wusste nicht einmal, wie er sie erreichen konnte, denn es hatte mehr als einmal geheißen, dass Ysera nicht ganz von dieser Welt sei – dass für sie die Träume die Wirklichkeit darstellten.
Die Träume stellten die Wirklichkeit dar?
Ein verzweifelter Plan reifte in dem Zauberer, einer, der ihn, wäre er ihm von seinen Ratsfreunden vorgeschlagen worden, seine üblichen Umgangsformen hätte vergessen und laut auflachen lassen. Wie schlichtweg lächerlich! Wie schlichtweg hoffnungslos!
Doch letztlich war es ebenso wie mit Nozdormu: Welche Wahl blieb ihm schon?
Krasus wandte sich wieder seinen Tränken, Artefakten und Pülverchen zu und suchte nach einer schwarzen Phiole. Er fand sie rasch, obgleich er sie länger als ein Jahrhundert nicht angefasst hatte. Das letzte Mal, als er sie zur Anwendung brachte, hatte er sie gebraucht, um zu besiegen, was als unbesiegbar galt. Jetzt hingegen war er nur darauf aus, sich eine ihrer bösartigsten Eigenschaften zunutze zu machen, und er hoffte, dass er sich dabei nicht verschätzte.
Drei Tropfen auf der Spitze eines einzelnen Bolzens hatten Manta, den Giganten aus der Tiefe, vernichtet. Drei Tropfen hatten eine Kreatur niedergestreckt, die von der zehnfachen Größe und Stärke eines Drachen war. Wie Deathwing hatte man auch von Manta geglaubt, er sei von nichts und niemanden aufzuhalten.
Und jetzt beabsichtigte Krasus ein wenig von dem Gift selbst einzunehmen.
»Der tiefste Schlaf, die tiefsten Träume …«, murmelte er zu sich selbst, während er die Phiole herunternahm. »Das ist der Ort, an dem sie sein wird, das ist der Ort, an dem sie sein muss.«
Von einem anderen Regal nahm er eine Tasse und eine kleine Flasche reinen Wassers. Der Drachenmagier füllte die Tasse mit einem einzelnen Schluck und öffnete dann die Phiole. Mit größter Vorsicht näherte er das offene Fläschchen der Tasse.
Drei Tropfen, um den Manta in Sekunden umzubringen. Wie viele Tropfen würden Krasus zu der Tückischsten seiner Reisen verhelfen?
Schlaf und Tod … sie waren sich so ähnlich, ähnlicher als die meisten es begriffen. Gewiss würde er Ysera dort finden.
Der winzigste Tropfen, den er abzumessen vermochte, fiel lautlos ins Wasser hinein. Krasus verschloss die Phiole wieder, dann nahm er die Tasse.
»Eine Bank«, murmelte er. »Am besten auf einer Bank …«
Sogleich entstand eine in seinem Rücken, eine gut gepolsterte Bank, auf der sich der König von Lordaeron mit Freuden zur Ruhe gelegt hätte. Auch Krasus beabsichtigte, gut auf ihr zu schlafen … vielleicht für immer.
Er setzte sich nieder und hob die Tasse an die Lippen. Doch bevor er sich überwinden konnte, den vielleicht letzten Schluck seines Lebens zu nehmen, brachte er einen Trinkspruch aus.
»Auf Euch, meine Alexstrasza, für ewig nur auf Euch!«
»In Ordnung, irgendjemand war hier«, murmelte Vereesa und betrachtete den Boden. »Einer von ihnen war ein Mensch … bei dem anderen bin ich mir nicht sicher.«
»Bitte erklärt mir mal, woran Ihr den Unterschied erkennt«, drängte Falstad schielend. Er konnte eine Spur nicht von der anderen unterscheiden. Genau genommen konnte er nicht einmal die Hälfte von dem erkennen, was die Elfe sah.
»Schaut her. Ein Stiefelabdruck.« Sie deutete auf einen kurvenförmigen Abdruck im Dreck. »Das sind Stiefel nach Menschenart, eng sitzend und unbequem.«