Die späte Nachmittagssonne begann zwischen den Baumwipfeln zu versinken, und es entstanden tief kontrastreiche Flächen aus Licht und dunklen Schatten zwischen den Bäumen. Rhonin hatte gehofft, den Rand des Waldes noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen, aber das würden sie nun nicht mehr schaffen. Nicht zum ersten Mal hielt er sich seine inneren Karten vor Auge, um zu prüfen, wo sie sich befanden, und ob sie, wie seine Begleiterin behauptet hatte, noch rechtzeitig zum Schiff gelangen würden. Seine Verspätung bei der Herberge war unvermeidbar gewesen, denn er hatte zunächst die nötige Ausrüstung und Vorräte besorgen müssen. Nun hoffte er, dass dies nicht die ganze Mission in Gefahr brachte.
Die Drachenkönigin zu befreien …
Für manche eine unmögliche, unerfüllbare Aufgabe und für die meisten der sichere Tod. Dennoch hatte Rhonin es schon während des Krieges vorgeschlagen. Denn es war sicher, wenn die Drachenkönigin erst einmal frei war, würden die Orks eines ihrer stärksten Machtmittel verlieren. Doch es hatte sich keine Gelegenheit ergeben, diesen fundamentalen Plan auszuführen.
Rhonin wusste, dass die meisten im Rat hofften, dass er versagen würde. Ihn loszuwerden würde in ihren Augen einen schwarzen Fleck aus der Geschichte ihres Ordens tilgen.
Diese Mission war eine zweischneidige Klinge: Einerseits wären sie erstaunt gewesen, wenn er zurückkehrte, andererseits erleichtert, sollte er scheitern und umkommen.
Wenigstens konnte er Krasus vertrauen. Der Zauberer war zu ihm gekommen, um sein jüngeres Gegenstück zu fragen, ob es immer noch glaubte, dass es das Unmögliche schaffen könne. Der Dragonmaw-Clan würde für immer an Khaz Modan festhalten, so lange Alexstrasza bei ihnen war – und solange die dortigen Orks das Werk der Horde weiterführten, konnten sie immer wieder mit den Bewohnern der bewachten Enklaven aneinander geraten. Niemand wollte den Krieg wieder aufleben lassen. Das Bündnis hatte genug damit zu tun, Streit in den eigenen Reihen zu führen.
Ein fernes Donnergrollen störte Rhonins Überlegungen. Er schaute hoch, sah aber nur ein paar Wattewölkchen. Mit einem Stirnrunzeln wandte sich der junge Mann der Elfe zu, um sie zu fragen, ob sie den Donner auch gehört habe.
Ein zweites, heftigeres Grollen ließ ihn jeden Muskel anspannen. Gleichzeitig sprang Vereesa ihn an!
Irgendwie hatte die Waldläuferin es geschafft, sich im Sattel umzudrehen und sich auf ihn zu katapultieren.
Ein riesiger Schatten lag über der Umgebung. Die Waldläuferin und der Zauberer prallten gegeneinander. Das Gewicht der Elfenrüstung warf beide von Rhonins Pferd. Ein ohrenbetäubendes Brüllen erschütterte die Luft und eine Kraft, einem Tornado gleich, schien die Landschaft zu zerreißen.
Als Rhonin auf den harten Boden prallte, hörte er durch den Schmerz hindurch das kurze Wiehern seines Pferdes – ein Geräusch, das im nächsten Augenblick abbrach.
»Bleib unten!«, schrie Vereesa über den Wind und das Brüllen hinweg. »Bleib unten!«
Aber Rhonin drehte sich um, wollte zum Himmel hinaufblicken – und starrte stattdessen in eine höllische Fratze.
Ein Drache von der Farbe wütenden Feuers füllte sein Blickfeld aus.
In seinen Vorderkrallen hielt er, was von Rhonins Pferd und den teuren, sorgfältig zusammengesuchten Vorräten übrig geblieben war. Der feuerrote Wurm verschluckte den Rest des Kadavers und dann fixierten seine Augen auch schon die lächerlich kleinen Figuren am Boden.
Auf den Schultern der Bestie saß eine groteske, grünliche Gestalt mit Stoßzähnen. Sie hielt eine Streitaxt, die fast so groß war wie der Zauberer, und bellte Befehle in einer rauen Sprache, während sie mit dem Finger direkt auf Rhonin wies.
Mit aufgerissenem Maul und gespreizten Krallen stob der Drache zu ihm herab.
»Ich danke Euch noch einmal für die Zeit, die Ihr mir schenkt, Euer Majestät«, sagte der hochgewachsene, schwarzhaarige Adlige mit einer Stimme voller Kraft und Verständnis. »Vielleicht können wir Euer gutes Werk noch davor bewahren, zunichte gemacht zu werden.«
»Wenn das so sein sollte«, erwiderte der ältere, bärtige Mann, der in eine elegante weiße und goldfarbene Staatsrobe gekleidet war, »werden Euch Lordaeron und das Bündnis einiges zu danken haben, Lord Prestor. Nur durch Euer Bemühen, dessen bin ich überzeugt, werden Gilneas und Stromgarde noch Vernunft annehmen.« Obwohl er kein kleiner Mann war, fühlte König Terenas sich ein wenig von der Größe seines Freundes überwältigt.
Der jüngere Mann lächelte und entblößte dabei perfekte Zähne. Es hätte König Terenas äußerst überrascht, wenn er einer eindrucksvolleren Erscheinung als Lord Prestor begegnet wäre. Mit seinem kurzen, gut geschnittenen schwarzen Haar, den glatt rasierten, habichtähnlichen Gesichtszügen, die viele der Frauen bei Hofe in helles Verzücken versetzten, seinem klugen Geist und einem Auftreten, das prinzlicher war als das irgendeines anderen Prinzen im Bündnis, war es absolut nicht überraschend, dass jeder, der mit der Alterac-Sache zu tun hatte, sich an ihn gewandt hatte, Genn Greymane eingeschlossen. Prestor hatte ein einnehmendes Wesen, das sogar den Regenten von Gilneas einmal zum Lächeln gebracht hatte, wie aus den Kreisen von Terenas' Diplomaten zu hören war.
Für einen jungen Adligen, von dem bis vor fünf Jahren noch niemand etwas gehört hatte, hatte sich der Gast des Königs ein erstaunliches Ansehen erworben.
Prestor stammte aus der abgelegensten, gebirgigsten Region von Lordaeron, war aber auch mit dem Hause Alterac blutsverwandt. Sein winziges Reich war beim Angriff eines Drachen während des Krieges zerstört worden, und er war zu Fuß in die Hauptstadt gekommen, ohne einen einzigen Diener. Seine Notlage und was er aus sich gemacht hatte, war inzwischen Legende. Darüber hinaus hatte sein Rat dem König oftmals geholfen, auch während der Dunklen Tage, als der ergrauende Monarch darüber entschieden hatte, was mit Lord Perenolde zu geschehen habe. Prestor hatte dabei den Ton angegeben. Er hatte Terenas ermutigt, die Macht in Alterac zu ergreifen und das Kriegsrecht einzuführen. Stromgarde und die anderen Königreiche hatten zwar Verständnis für eine militärische Aktion gegen den verräterischen Perenolde gezeigt, nicht aber dafür, dass Lordaeron auch noch nach dem Krieg über Alterac verfügen wollte. Jetzt sah es endlich so aus, als sei Prestor derjenige, der ihnen alles erklären und sie dazu bringen konnte, eine endgültige Lösung zu akzeptieren.
Dies alles hatte den König dazu gebracht, über eine mögliche Lösung nachzudenken, die sogar sein scharfsinniges Gegenüber sprachlos machen würde.
Terenas verweigerte die Rückgabe Alteracs an Perenoldes Neffen, der von Gilneas unterstützt wurde. Auch hielt er es nicht für weise, das besagte Königreich zwischen Lordaeron und Stromgarde aufzuteilen. Das würde den Zorn von Gilneas und sogar Kul Tiras heraufbeschwören. Alterac völlig aufzulösen kam ebenfalls nicht in Frage.
Doch was, wenn er die Herrschaft über die Region in die fähigen Hände eines Mannes legte, der von allen bewundert wurde und der gezeigt hatte, dass er nichts mehr als Frieden und Eintracht wollte? Ein fähiger Verwalter, wenn Terenas sich nicht irrte, und nicht zu vergessen jemand, der mit Gewissheit ein treuer Verbündeter und Freund von Lordaeron bleiben würde …
»Nein, wirklich, Prestor.« Der König reckte sich, um dem erheblich stattlicheren Lord auf die Schulter zu klopfen. Prestor war über zwei Meter groß, aber obwohl schlank, konnte man ihn nicht schlaksig nennen. Die blauschwarze Uniform stand Prestor vortrefflich, er sah wirklich wie der Inbegriff eines kämpferischen Helden aus.
»Ihr habt allen Grund, stolz zu sein … und verdient es, belohnt zu werden! Ich werde nicht so bald vergessen, welche Rolle Ihr gespielt habt, glaubt mir!«