Daraufhin hatte Vereesa nicht mehr die geringste Idee, wie sie dem drohenden Verhängnis noch entkommen sollten. Die Erde reichte ihr bereits bis zur Hüfte, und der Gedanke, lebendig begraben zu werden, machte selbst die Elfe nervös – im Gegensatz zu Falstad schien ihre eigene Lage jedoch erst halb so dramatisch zu sein. Der kleinere Wuchs des Zwergen bedeutete für ihn, dass er bereits Schwierigkeiten hatte, seinen Kopf über dem Erdreich zu halten. So sehr es der Greifenreiter auch versuchte, nicht einmal seine unglaubliche Stärke konnte ihm in dieser Situation helfen. Er grub verzweifelt in der nachgiebigen Erde und warf Hände voller Dreck zur Seite, aber all dies half nicht im geringsten.
Verzweifelt streckte die Waldläuferin ihre Hand aus. »Falstad! Meine Hand! Versucht sie zu ergreifen!«
Er versuchte es. Sie versuchten es beide. Doch die Entfernung zwischen ihnen war zu groß geworden. Mit wachsendem Grauen sah Vereesa zu, wie ihr kämpfender Gefährte unaufhaltsam in die Erde gezogen wurde.
»Mein …«, war alles, was er noch sagen konnte, dann war er verschwunden.
Mittlerweile bis zur Brust versunken, erstarrte sie für einen Augenblick und blickte auf den kleinen Erdhügel, der alles darstellte, was von dem Zwerg übrig geblieben war. Die Stelle zitterte nicht einmal. Kein letztes Hervorbrechen einer Hand, kein wildes Strampeln in der Tiefe.
»Falstad …«, murmelte sie.
Ein erneuter Zug an ihren Fußgelenken zerrte sie tiefer. Genau wie der Zwerg griff Vereesa nach der sie umgebenden Erde, grub tiefe Furchen mit ihren Fingern, ohne einen erkennbaren Erfolg zu erzielen. Ihre Schultern versanken. Sie reckte den Kopf so weit sie konnte. Von dem Greif war nichts zu sehen, doch eine andere Gestalt, allzu bekannt, lugte aus einer schmalen Spalte, die der Elfe entgangen war. Selbst im schwindenden Licht konnte sie Krylls zähnefletschendes Grinsen sehen.
»Vergebt mir, meine Herrin, aber der Dunkle besteht darauf, dass sich niemand einmischt, und daher übertrug er mir die Aufgabe, für Euren Tod zu sorgen! Ein niederes Stück Arbeit und eines, das einem klugen Kopf wie mir unwürdig ist, aber mein Meister hat bedauerlicherweise ziemlich große Zähne und äußerst scharfe Klauen. Ich konnte es ihm unmöglich abschlagen, nicht wahr?« Sein Grinsen wuchs in die Breite. »Ich hoffe, Ihr versteht das …«
»Sei verdammt …!«
Der Boden verschlang sie. Erde füllte den Mund der Elfe und kroch selbst, wie es schien, in ihre nach Luft ringenden Lungen. Sie verlor das Bewusstsein.
13
Das Luftschiff der Goblins schwebte durch die Wolken. Nun, da es sich seinem Bestimmungsort näherte, wurde es überraschend leise. Am Bug des Schiffs hielt Rhonin ein waches Auge auf die beiden Gestalten, die ihn seinem Ziel entgegenführten. Die Goblins huschten hin und her, justierten die Messgeräte und murrten leise vor sich hin. Wie ein solch verrücktes Volk solch ein Wunder konstruieren konnte, war ihm schleierhaft. Jeden Augenblick, so schien es, lief das Luftschiff Gefahr, sich selbst zu zerstören, doch jedes Mal gelang es den Goblins gerade noch, dies abzuwenden.
Deathwing hatte nicht mehr mit Rhonin gesprochen, seit er ihn an Bord geführt hatte. Doch der Zauberer hatte sich nicht widersetzt, weil ihm klar war, dass er eigentlich keine Wahl hatte. Dennoch war er nur zögernd an Bord des Schiffes geklettert und hatte sich seither mehr als einmal gefragt, was geschehen würde, wenn es plötzlich einfach abstürzte.
Die Goblins hießen Voyd und Nullyn, und sie hatten das Schiff selbst gebaut. Sie waren sehr gute Erfinder, sagten sie, und hatten ihre Dienste dem Wunderbaren Deathwing angeboten. Natürlich sagten sie Letzteres mit einem kleinen bisschen Sarkasmus in der Stimme. Sarkasmus und Angst.
»Wo bringt ihr mich hin?«, fragte Rhonin. Diese Frage veranlasste die beiden Piloten, ihn anzusehen, als hätte er den Verstand verloren. »Nach Grim Batol natürlich!«, schnauzte der eine, der doppelt so viele Zähne wie jeder andere Goblin zu haben schien, der Rhonin je über den Weg gelaufen war. »Nach Grim Batol!«
Das war dem Zauberer natürlich klar, aber er wollte wissen, wo genau sie ihn abzusetzen gedachten. Er traute ihnen zu, dass sie ihn inmitten einer Ork-Siedlung hinauswarfen. Doch bevor Rhonin noch einmal nachfragen konnte, mussten die Goblins einen neuerlichen Notfall angehen – ein Strahl heißen Dampfes entwich aus dem Haupttank. Das Luftschiff der beiden benutzte Öl und Wasser, um die Maschinen anzutreiben, und wenn nicht eines davon für kritische Momente sorgte, dann war es das andere. Die Folge war eine ziemlich schlaflose Nacht, sogar für jemanden wie Rhonin.
Die Wolken, die sie durchflogen, waren so dick geworden, dass der Magier durch einen dichten Nebel zu reisen schien. Hätte er nicht gewusst, in welcher Höhe sie flogen, Rhonin hätte schwören können, sie wären auf offener See und nicht in der Luft. Tatsachlich hatten beide Arten des Reisens einiges gemeinsam, sogar die Gefahr, an Felsen zu zerschellen. Mehr als einmal hatte Rhonin beobachtet, wie zu beiden Seiten des winzigen Schiffes plötzlich Berge sichtbar wurden, und einige Male waren sie gefährlich nahe daran vorbei geschrammt. Doch während er stets mit dem Schlimmsten rechnete, führten die Goblins ihre Arbeit ungerührt weiter – manchmal machten sie sogar ein Nickerchen –, ohne diesen Beinahe-Katastrophen Aufmerksamkeit zu zollen.
Der Tag war schon lange angebrochen, doch die starke Bewölkung wob tiefe Schatten über das Land. Voyd schien eine Art magnetischen Kompass zu benutzen, um den Kurs zu halten, doch als Rhonin ihn sich einmal näher anschaute, hatte er verblüfft feststellen müssen, dass er dazu neigte, plötzlich und ohne ersichtlichen Grund die Anzeige zu ändern. Letztendlich war der Zauberer zu dem Schluss gelangt, dass sich die Goblins auf diesem Flug wohl eher auf pures Glück verließen.
Am Anfang hatte er versucht die Reisedauer zu schätzen. Aus irgendeinem Grund versicherten ihm die beiden jeden lediglich immer wieder, dass bis zur Ankunft noch einige Zeit verstreichen würde, obwohl Rhonin das Gefühl hatte, dass sie das Fort längst erreicht haben müssten. Langsam keimte in ihm der Verdacht, dass das Luftschiff eine Schleife flog, entweder durch den defekten Kompass bedingt, oder weil die Goblins düstere Pläne verfolgten.
Obwohl er sich auf seine Aufgabe hätte konzentrieren sollen, musste Rhonin immer öfter an Vereesa denken. Wenn sie am Leben war, würde sie ihm folgen. Er kannte sie gut genug. Dieses Wissen bestürzte ihn ebenso, wie es ihn froh machte. Aber wie sollte die Elfe etwas über die Existenz des Luftschiffs herausfinden? Möglicherweise durchwanderte sie ganz Khaz Modan auf der Suche nach ihm, oder, schlimmer noch, sie zog die richtigen Schlüsse und machte sich direkt auf nach Grim Batol …!
Seine Hand umklammerte das Geländer. »Nein«, flüsterte er. »Nein … das würde sie nicht tun … Das kann sie nicht tun!«
Duncans Geist ließ ihm schon keine Ruhe, genau wie die Seelen der Männer, denen seine letzte Mission zum Schicksal geworden war. Sogar Molok stand da bei den Toten, der wilde Zwerg, und glühte vor Verachtung. Rhonin konnte schon Vereesa und sogar Falstad in den Rängen der Leichen sehen, die mit toten Augen zu wissen verlangten, warum der Zauberer lebte, sie aber geopfert worden waren.
Es war eine Frage, die Rhonin sich selbst schon oft gestellt hatte.
»Mensch?«
Als er aufsah, erblickte er Nullyn, den gedrungeneren der beiden Goblins, der nur eine Armlänge entfernt stand. »Was ist?«
»Zeit, sich auf das Aussteigen vorzubereiten.« Der Goblin grinste ihn fröhlich an.