»Wir sind da?« Rhonin kehrte aus seinen düsteren Gedanken zurück und spähte in den Nebel. Er sah nur noch mehr Nebel, auch unterhalb des Luftschiffs. »Ich vermag nichts zu erkennen.«
Hinter Nullyn stand Voyd, ebenfalls fröhlich grinsend, und warf das lose Ende einer Strickleiter über Bord. Das Klatschen des Seiles gegen die Schiffswand war das einzige Geräusch, das Rhonin hören konnte. Das Ende der Leiter hatte keinen Boden berührt, soviel stand fest.
»Wir sind da. Dies ist der korrekte Ort, das schwören wir, Meister Zauberer!« Voyd wies zur Reling. »Seht selbst!«
Rhonin lugte … vorsichtig … hinab. Es war absolut möglich, dass die Goblins ihre vereinten Kräfte dafür einsetzen wollten, Rhonin über Bord zu werfen, ganz gleich was Deathwing ihnen aufgetragen hatte. »Ich sehe nichts.«
Nullyn nickte entschuldigend. »Das liegt an den Wolken, Meister Zauberer! Sie verbergen Eurem menschlichen Auge, was darunter liegt! Wir Goblins können viel besser sehen. Unter uns ist ein sehr sicherer, sehr breiter Sims. Klettert die Leiter hinunter, und wir werden Euch ganz sanft absetzen, Ihr werdet sehen!«
Der Magier zögerte. Er wünschte sich nichts mehr, als das Luftschiff und dessen Crew hinter sich zu lassen, aber dem Goblin ohne weiteres zu glauben, dass dort unten Land war …
Ohne Warnung schoss plötzlich Rhonins linke Hand vor und packte den überraschten Nullyn. Die Finger des Magiers schlossen sich um die Kehle des Goblins und drückten hart zu, obwohl Rhonin selbst eigentlich versuchte, die Hand wieder zurückzuziehen.
Der Widerspruch löste sich auf, als eine Stimme, die nicht seine eigene, aber ihm höchst vertraut war, zischte: »Ich habe Befehl gegeben, dass keine Tricksss gespielt werden, und kein Verrat geübt wird, Wurm!«
»G-Gnade, großer und m-mächtiger M-Meister!«, krächzte Nullyn. »Nur ein Spaß! Nur ein Sp …« Mehr konnte er nicht sagen, denn Rhonins Griff hatte sich verstärkt.
Mit aller Anstrengung senkte der hilflose Zauberer seinen Blick nach unten. Er sah, dass der schwarze Stein in seinem Medaillon schwach glühte. Wieder benutzte es Deathwing, um die Kontrolle über seinen menschlichen »Verbündeten« zu erlangen.
»Spaß?«, brachten Rhonins Lippen hervor. »Du magst Spielchen dieser Art? Dann habe ich eines für dich, das du spielen kannst, Wurm …!«
Ohne große Anstrengung zog der Arm des Menschen den sich wehrenden Nullyn zur Reling. Voyd quiekte und rannte in Richtung des Motors. Rhonin kämpfte gegen Deathwings Kontrolle über seinen Körper, denn er war sicher, dass der schwarze Leviathan vorhatte, Nullyn ins Verderben zu stürzen. Der Magier mochte den Goblin zwar nicht sonderlich, wollte jedoch nicht dessen Blut an den Händen kleben haben – auch wenn diese momentan durch den Drachen gelenkt wurden.
»Deathwing!«, schnappte er, überrascht, dass er seine Lippen überhaupt bewegen konnte. »Deathwing! Tu das nicht!«
Hättest du es lieber, wenn du in ihre kleine Falle getappt wärst, Mensch?, klang die Stimme in seinem Kopf. Der Fall wäre ziemlich unangenehm verlaufen für jemanden, der nicht fliegen kann.
»Solch ein Narr bin ich nicht! Ich hatte nicht vor, auf das Wort eines Goblins hin über Bord zu springen! Du hättest mich doch gar nicht gerettet, wenn du glauben würdest, dass ich so dämlich bin!«
Das mag wahr sein.
»Und ich bin keineswegs völlig hilflos.« Rhonin hob seine andere Hand, die Deathwing anscheinend nicht benötigte. Mit ein paar gemurmelten Worten entfachte der Zauberer eine Flamme an seinem Zeigefinger, die er auf das ohnehin schon angstverzerrte Gesicht von Nullyn richtete.
»Es gibt andere Wege, einem Goblin eine Lektion in Sachen Vertrauen zu erteilen.«
Kaum fähig zu atmen und unfähig zu fliehen, riss Nullyn die Augen weit auf. Gleichzeitig versuchte das dürre Geschöpf, den Kopf zu schütteln.
»Bin gut! Wollte nur ä-ärgern! Hab nicht bös gemeint!«
»Also werdet ihr mich zu einem anständigen Platz bringen, einverstanden? Zu einem, der Deathwing und mir genehm ist?«
Nullyn konnte zur Bestätigung nur quieken.
»Diese Flamme kann ich vergrößern.« Das magische Feuer wuchs zur doppelten Höhe an. »Genug, um die Wand des Luftschiffes von unten anzuzünden, oder vielleicht das Öl zu entzünden …«
»K-Keine Tricks mehr! K-Keine Tricks mehr! Ich versprech's!«
»Siehst du?«, wandte sich der rothaarige Magier an seinen unsichtbaren Begleiter. »Es ist nicht nötig, ihn über Bord zu werfen. Außerdem hast du vielleicht noch Verwendung für ihn.«
Zur Antwort gab Rhonins Hand den Goblin frei, und dieser stürzte mit einem lauten Poltern zu Boden. Für einige Sekunden lag er einfach da und rang verzweifelt um Atem.
Es ist deine Entscheidung … Zauberer.
Der Mensch nickte, sah Voyd an, der immer noch in der Nähe des Motors kauerte, und rief laut: »Was ist? Bring uns zum Berg!«
Voyd gehorchte augenblicklich. Hektisch bearbeitete er die Instrumente und legte Hebel um. Nullyn erholte sich langsam und kehrte zu seinem Partner zurück. Der geschlagene Goblin mied jeden Blickkontakt mit Rhonin.
Der Zauberer löschte die Flamme und blickte über die Reling. Endlich konnte er eine Formation ausmachen und hoffte, dass es die Gipfel von Grim Batol waren. Wenn Deathwings frühere Worte und die Vision, die er ihm geschickt hatte, immer noch von Bestand waren, wollte der Drache ihn in Gipfelnähe absetzen lassen, vorzugsweise in der Nähe eines Spalts, der ins Innere führte. Sicher wussten das auch die Goblins, und daran würde er ersehen können, ob sie ihn immer noch betrügen wollte oder aus dem Geschehen gelernt hatten.
Rhonin betete, dass Deathwing sich nicht zu einer erneuten Machtdemonstration veranlasst fühlen musste. Er bezweifelte, dass der Drache die Goblins ein weiteres Mal verschonen würde.
Sie begannen sich einem Gipfel zu nähern, der Rhonin vage bekannt vorkam, obwohl er noch nie in Grim Batol gewesen war. Mit wachsendem Eifer beugte er sich vor, um besser sehen zu können. Dies musste der Berg aus der Vision sein. Er suchte nach verräterischen Zeichen – einen vertrauten Vorsprung oder einen Spalt.
Dort! Es war genau der gleiche schmale Höhlenmund wie auf der verworrenen Reise, die nur sein Geist ausgeführt hatte. Gerade groß genug, um einen Mann aufrecht gehend passieren zu lassen, vorausgesetzt, er schaffte es, vorher mehrere hundert Fuß schiere Steilwand zu erklimmen.
Rhonin konnte es kaum noch erwarten, die bösartigen Goblins und ihre unmögliche Flugmaschine loszuwerden. Die Strickleiter baumelte immer noch lose und bereit, benutzt zu werden. Der misstrauische Zauberer wartete, bis Voyd und sein Kumpan ihr Schiff nahe genug herangeführt hatten.
Was auch immer er zu früheren Gelegenheiten über die Beherrschbarkeit des Schiffes gedacht haben mochte, nun musste er zugeben, dass die Goblins es geradezu bewundernswert sicher manövrierten.
Die Leiter schlug leicht gegen die Felswand links von der Höhle. »Kannst du es in dieser Position ruhig halten?«, rief er Nullyn zu.
Ein Nicken war alles, was er dem verängstigten Piloten abzuringen vermochte, aber mehr brauchte er auch nicht. Keine Tricks mehr – er war sicher, sie würden es beherzigen. Selbst wenn sie nicht ihn fürchteten, den Zorn Deathwings wollten sie gewiss nicht noch einmal heraufbeschwören.
Rhonin atmete tief durch und kletterte über die Reling. Die Leiter wackelte bedrohlich hin und her, und mehr als einmal wurde er gegen die Felswand geschleudert. Der Zauberer ignorierte die Schmerzen jedoch und stieg so schnell er konnte bis zur untersten Sprosse hinab.
Der schmale Vorsprung der Höhle war fast direkt unter ihm, aber obwohl die Goblins das Luftschiff so gut ausgerichtet hatten, wie sie es nur konnten, trieb der starke Bergwind ihn immer wieder davon. Dreimal versuchte er Fuß zu fassen; dreimal blies der Wind ihn von der Höhle weg, und er schwebte über dem Abgrund.
Es kam sogar noch schlimmer. Als der Wind stärker wurde, begann das Luftschiff hin und her zu schwingen, und manchmal zog es ihn ein paar kritische Zentimeter zur Seite. Von oben ertönten die aufgeregten Stimmen der Goblins. Ihre Worte konnte der Magier jedoch nicht verstehen.