Rom blieb stehen. »Wie können die Orks dann noch die Herrschaft über Grim Batol halten?«
»Da fragst du noch?«, mischte sich Falstad ein. »Zum einen halten die Orks noch den Norden, bei Dun Algaz – ihre dortige Niederlage ist zwar abzusehen, aber sie werden nicht kampflos untergehen.«
»Und das andere, Cousin?«
»Hast du noch nicht gemerkt, dass sie Drachen haben?«, fragte Falstad, ohne den Spott ganz zu verbergen.
Gimmel schnaubte. Rom starrte seinen Stellvertreter kurz an, nickte dann aber resigniert. »Aye, die Drachen. Noch ein Feind, den wir auf der Erde nicht besiegen können. Einmal haben wir eine junge Brut gefangen und kurzen Prozess mit ihr gemacht – und ein oder zwei gute Krieger dabei verloren, wie ich leider sagen muss –, aber meistens bleiben sie da oben und wir müssen uns hier unten vor ihnen verstecken.«
»Doch die Trolle habt ihr bekämpft, und sicherlich auch die Orks«, sagte Vereesa.
»Die gelegentliche Patrouille, aye. Auch den Trollen haben wir einigen Schaden zugefügt – aber all das bedeutet nichts, solange unsere Heimat noch unter der Axt der Orks liegt!« Er starrte ihr in die Augen. »Nun frage ich noch einmal. Sagt mir, wer Ihr seid, und was Ihr hier tut! Wenn Khaz Modan noch immer in Ork-Hand ist, dann grenzt es an Selbstmord, wenn Ihr nach Grim Batol kommt!«
»Mein Name ist Vereesa Windrunner, Waldläuferin, und dies ist Falstad von den Aerie. Wir sind hier, weil ich einen Zauberer suche, einen Menschen, hochgewachsen und jung. Er hat Haar von der Farbe des Feuers, und das letzte Mal, als ich ihn sah, reiste er in diese Richtung.« Sie entschied sich, die Anwesenheit des schwarzen Drachen erst einmal zu verschweigen, und war dankbar, dass Falstad sich ihr darin anschloss.
»Und dämlich wie Zauberer nun einmal sind, besonders die menschlichen … was sucht er denn in Grim Batol?« Rom sah die beiden mit wachsendem Misstrauen an, denn Vereesas Geschichte klang ohne Zweifel für seinen Geschmack zu weit hergeholt.
»Das weiß ich nicht«, gab sie zu. »Aber ich denke, es hat etwas mit den Drachen zu tun.«
Als er dies hörte, brach der Anführer der Zwerge in brüllendes Gelächter aus. »Die Drachen? Was hat er denn vor? Die Rote Königin von ihren Fesseln zu befreien? Sie wird so dankbar sein, dass sie ihn vor lauter Freude verschlingt!«
Die Hügelzwerge schienen dies furchtbar lustig zu finden, die Elfe nicht. Auch Falstad schloss sich ihnen nicht an, doch er wusste natürlich von Deathwing und nahm wahrscheinlich an, Rhonin sei schon längst verschlungen worden.
»Ich habe einen Eid geschworen, und deshalb werde ich weitersuchen. Ich muss Grim Batol erreichen und hoffe, ihn zu finden.«
Die allgemeine Belustigung wandelte sich zu einer Mischung aus Erstaunen und Unglauben. Gimmel schüttelte den Kopf, als habe er nicht recht gehört. »Lady Vereesa, ich respektiere Euch, doch sicherlich wisst Ihr selbst, wie ungeheuerlich dieses Vorhaben ist!«
Sie musterte die hartgesottene Bande sorgfältig. Sogar im Halbdunkel konnte sie die Erschöpfung und den Fatalismus auf ihren Gesichtern sehen. Sie kämpften und träumten davon, ihr Heimatland frei zu sehen, nahmen aber wahrscheinlich an, dass dies nicht mehr zu ihren Lebzeiten geschehen würde. Sie bewunderten Mut, wie alle Zwerge, doch sogar ihnen musste das Vorhaben der Elfe an Wahnsinn grenzen.
»Ihr und Eure Leute habt uns gerettet, Rom, und dafür danke ich Euch allen. Doch wenn ich um eines bitten darf, so zeigt mir den nächsten Tunnel, der zu der Bergfestung führt. Ich werde von da ab alleine weiterziehen.«
»Ihr reist nicht allein, meine Elfendame«, widersprach Falstad. »Ich bin zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren … und ich habe vor, einen ganz bestimmten Goblin zu finden und seine Haut zu Stiefeln zu verarbeiten!«
»Ihr seid beide verrückt!« Rom sah, dass keiner nachgeben würde. Achselzuckend fügte er hinzu: »Aber wenn Ihr einen Weg nach Grim Batol sucht, dann werde ich diese Aufgabe keinem anderen überlassen. Ich werde Euch selbst dorthin führen!«
»Du kannst nicht alleine gehen, Rom!«, hielt Gimmel dagegen. »Nicht, wenn Trolle unterwegs sind und Orks in der Nähe! Ich gehe mit dir mit, um dir den Rücken zu stärken!«
Auf einmal beschloss die ganze Gruppe, mitzugehen und ihren Führern den Rücken zu stärken. Sowohl Rom als auch Gimmel versuchten, ihnen das auszureden, doch da ein Zwerg für gewöhnlich so störrisch war wie der andere, hatte der Anführer schließlich eine bessere Idee.
»Die Verwundeten sollten heimkehren, und sie brauchen auch Schutz – keine Widerrede, Narn, du kannst kaum noch stehen! Das Beste ist, wir rollen die Knochen; die Hälfte mit den höheren Zahlen kommt mit! Nun, wer hat sein Set zur Hand?«
Vereesa wollte eigentlich nicht unbedingt warten, bis die Gruppe ausgewürfelt hatte, wer sie begleitete, doch offenbar blieb ihr keine andere Wahl. Sie und Falstad schauten also zu, wie die Zwerge – Narn und die anderen Verwundeten ausgenommen – die Würfel entscheiden ließen. Die meisten der Hügelzwerge benutzten ihr eigenes Set; Roms Frage war mit einer erklecklichen Anzahl erhobener Arme beantwortet worden.
Falstad gluckste leise. »Die Aerie und die Hügelzwerge mögen ihre Unterschiede haben, doch wenige Zwerge, egal welcher Art sie angehören, tragen keine Würfel mit sich!« Er klopfte auf eine kleine Tasche an seinem Gürtel. »Man kann sehen, was für Heiden die Trolle sind, sie haben mir meine gelassen! Man sagt, sogar die Orks lassen ganz gerne die Knochen rollen, das erhebt sie über unsere jüngst verstorbenen Schönheiten, eh?«
Nach für Vereesas Geschmack viel zu langer Zeit kamen Rom und Gimmel in Begleitung von sieben weiteren Zwergen zu ihnen, einen entschlossenen Ausdruck auf den Gesichtern. Als Vereesa sie ansah, hätte sie schwören können, dass sie alle Brüder waren – obwohl tatsächlich zwei von ihnen auch Schwestern sein mochten. Sogar die weiblichen Zwerge hatten starken Bartwuchs – ein Zeichen von Schönheit unter den Angehörigen dieser Rasse.
»Hier sind Eure Freiwilligen, Lady Vereesa! Alle stark und kampfbereit! Wir führen Euch zu einem der Höhleneingange am Fuß des Berges, danach seid Ihr auf Euch selbst angewiesen.«
»Ich danke Euch – bedeutet das, dass Ihr tatsächlich einen Weg kennt, der in den Berg hineinführt?«
»Aye, doch es ist kein leichter Weg … und nicht nur die Orks patrouillieren dort.«
»Was meinst du damit?«, fragte Falstad neugierig.
Rom präsentierte dem Zwerg das gleiche unschuldige Lächeln, mit dem Falstad ihn anblickte, und fragte: »Hast du schon vergessen? Sie haben Drachen …«
Das Heiligtum von Krasus war in der Nähe eines uralten Wäldchens erbaut worden, älter als die Drachen selbst. Ein Elf hatte es errichtet, später war es von einem menschlichen Zauberer besetzt worden, und dann, lange nachdem dieser es verlassen hatte, hatte Krasus es in Besitz genommen. Er hatte die Kräfte, die hier weilten, gespürt, und bei seltenen Gelegenheiten aus ihnen ein wenig eigene Stärke ziehen können. Doch selbst der Drachenzauberer war überrascht gewesen, als er eines Tages in dem abgelegensten Teil der Zitadelle den versteckten Eingang gefunden hatte, der zu einem glitzernden Becken und zu einem goldenen Juwel führte, das in der Mitte des Beckenbodens eingelassen war. Jedes Mal, wenn er die Kammer betrat, spürte er ein Gefühl von Ehrfurcht, was bei seinesgleichen selten vorkam. Die Magie hier ließ ihn sich wie einen menschlichen Lehrling fühlen, der gerade seinen ersten magischen Spruch erlernt hatte. Krasus wusste, dass er bisher nur einen Bruchteil der wahren Macht des Wasserbeckens angezapft hatte, doch etwas hielt ihn davon zurück, zu versuchen, mehr davon zu bekommen. Die, die in ihrer Suche nach magischer Kraft zu gierig vorgingen, wurden nach und nach von ihr verschlungen – im wahrsten Sinne des Wortes.
Deathwing war diesem Schicksal allerdings bislang entronnen.
Obwohl es sich so tief unter der Erde befand, war das Wasser nicht völlig ohne Leben – oder etwas, was dem nahe kam. Das Wasser war klarer als jede andere Flüssigkeit auf der Welt, doch Krasus konnte die kleinen, schlanken Geschöpfe, die sich im Becken und ganz besonders in der Nähe des Juwels aufhielten, nie wirklich genau erkennen, so sehr er es auch versuchte. Manchmal hätte er schwören können, sie wären nichts als kleine silberne Fische, doch dann und wann hätte der Drachenzauberer auch schwören mögen, dass er Arme sah, einen menschlichen Körper, und bei einigen seltenen Gelegenheiten – Beine.