Heute ignorierte er die Bewohner des Beckens. Seine Begegnung mit Ihr-von-den-Träumenden hatte Hoffnung auf Hilfe in ihm geweckt; doch Krasus wusste, dass er darauf allein nicht bauen konnte. Es würde nicht mehr lange dauern, und er würde sich selbst einbringen müssen.
Und das war der Grund, aus dem er nun hergekommen war, denn eine der Eigenschaften des Wassers war Verjüngung für jene, die von ihm tranken – wenigstens für einige Zeit. Das Gift, das er benutzt hatte, um in das verborgene Reich von Ysera zu gelangen, hatte Krasus geschwächt, und wenn die Dinge verlangten, dass er handelte, wollte er dazu auch in der Lage sein.
Der Zauberer beugte sich hinab und schöpfte mit der Hand ein wenig von dem Wasser. Beim ersten Mal hatte er einen Becher benutzen wollen, doch es hatte sich herausgestellt dass das Becken künstlich geschaffene Dinge abstieß. Krasus lehnte sich über den Rand, damit die Tropfen, die er verschüttete, wieder in das Wasser zurückfielen. Sein Respekt für die Macht, die ihm innewohnte, war über die Jahre sehr groß geworden.
Doch als er trank, fiel ihm eine Kräuselung der Wasseroberfläche auf. Krasus blickte auf das, was eigentlich das vollkommene Spiegelbild seiner menschlichen Form hätte sein sollen – doch es zeigte etwas völlig anderes.
Rhonins junges Gesicht sah ihn an … zumindest dachte der Zauberer das zuerst. Dann stellte er fest, dass die Augen seines Gegenübers geschlossen waren und der Kopf leicht zur Seite rollte, als ob … als ob er tot sei.
Auf Rhonins Gesicht legte sich eine große, grüne Ork-Hand.
Krasus reagierte instinktiv, er fasste ins Wasser, um die widerliche Hand wegzustoßen. Stattdessen zerstörte er das Bild, und als die Wellen sich gelegt hatten, sah er nur noch seine eigene Spiegelung.
»Bei der Großen Mutter!« Das Becken hatte diese Fähigkeit noch nie gezeigt. Warum jetzt?
Erst dann fielen Krasus die Abschiedsworte von Ysera wieder ein. Und unterschätze nicht die Macht derer, die für dich nur Spielfiguren sind!
Was hatte sie damit gemeint, und warum hatte er gerade Rhonins Gesicht gesehen? Nach dem kurzen Bild, das der alte Zauberer hatte erhaschen können, war sein jüngeres Gegenstück entweder von Orks gefangen worden oder tot. Wenn dem so war, dann hatte Rhonin für Krasus seinen Nutzen verloren – doch falls er die Bergfestung tatsächlich erreicht hatte, war die wahre Aufgabe, die zu erfüllen sein Förderer ihn ausgesandt hatte, bereits bewältigt …
Nach den Ereignissen, die Krasus in den letzten Monaten zur Entdeckung der Orks auf Grim Batol geführt hatten, hatte der alte Drachenmagier gehofft, er könnte die Kommandierenden dort zu der Annahme verleiten, es werde eine zweite, nicht so offensichtliche Invasion von Westen her geben.
Obwohl noch sehr viele Ork-Krieger in der Festung lebten, begründete sich ihre wahre Stärke auf die Drachen, die sie züchteten und abrichteten … und deren Zahl wurde von Woche zu Woche geringer. Noch schlimmer für die Orks im Berg aber war, dass ihre wenigen Drachen nun nach und nach gen Norden geschickt wurden, um dem Haupttrupp der Horde beizustehen, und Grim Batol so fast ohne Verteidigung zurückblieb. Gegen eine entschlossene Armee, so groß wie die, die nun bei Dun Algaz kämpfte, würden selbst die gutpositionierten Orks im Berg letzten Endes aufgeben müssen. Dann hatten sie auch die Chance vertan, weitere Drachen für den Krieg zu heranzuzüchten. Und ohne weitere Drachen, die die Armeen des Bündnisses im Norden aufhalten konnten, würden die Reste der Horde unter den unentwegten Angriffen schließlich kapitulieren müssen.
Eine solche Armee hätte gebildet und vom Westen her entsandt werden können, doch es fehlte an Einigkeit zwischen den Führern des Bündnisses. Die meisten waren der Meinung, dass Khaz Modan irgendwann schon fallen würde, warum also noch mehr riskieren?
Krasus mochte anfangs nicht glauben, dass sie keinen Angriff von zwei Seiten her wagen würden, um die Welt endlich von den Orks zu befreien, doch letztlich bewies es nur die Kurzsichtigkeit der jüngeren Rassen. Ursprünglich hatte er versucht, die Herrscher der Kirin Tor zu bewegen, die Angelegenheit in die Hände von Dalarans Nachbarn zu legen, doch als ihr Einfluss auf König Terenas nachließ, hatten seine eigenen Verbündeten im Rat sich lieber um das gekümmert, was von ihrer eigenen Position im Bündnis übriggeblieben war.
Und so hatte sich Krasus zu einem verzweifelten Bluff entschieden, wobei er auf das abwegige Denken und die Paranoia baute, die im Ork-Kommando vorherrschten. Er würde sie glauben machen, die Invasion habe bereits begonnen. Sogar greifbare Beweise lieferte er ihnen, neben den Gerüchten, die er und seine Agenten gestreut hatten. Bestimmt würden sie dann das Undenkbare tun. Bestimmt würden sie dann die Bergfeste verlassen und, mit Alexstrasza unter sorgfältiger Bewachung, die Drachenzucht nach Norden verlegen.
Der Plan hatte als eine verrückte Hoffnung begonnen, doch zu seiner eigenen Überraschung entdeckte Krasus, dass er erstaunliche Ergebnisse zeitigte. Der Ork, der auf Grim Batol das Oberkommando hatte, ein gewisser Nekros Skullcrusher, war letzthin immer sicherer geworden, dass die Tage, da die Bergfestung einen Nutzen brachte, gezählt seien. Die wilden Gerüchte, die der Zauberer verbreitet hatte, hatten ein Eigenleben entwickelt und übertrafen Krasus' damit verbundene Erwartungen inzwischen bei weitem.
Und nun … nun hatten die Orks Beweise in der Person Rhonins erhalten. Der junge Magier hatte seine Aufgabe erfüllt. Er hatte Nekros gezeigt, dass die scheinbar uneinnehmbare Festung ganz einfach betreten werden konnte, besonders mit Hilfe von Magie. Nun würde der Kommandeur der Orks bestimmt Weisung erteilen, Grim Batol zu verlassen.
Ja, Rhonin hatte seine Sache gut gemacht … und Krasus wusste, dass er es sich niemals vergeben würde, diesen Menschen so benutzt zu haben.
Was würde seine geliebte Königin von ihm denken, wenn sie die ganze Wahrheit erfuhr? Von all den Drachen liebte Alexstrasza die minderen Rassen am meisten. Sie waren die Kinder der Zukunft, hatte sie einmal gesagt.
»Es musste sein!«, fauchte er.
Die Vision in dem Becken hatte ihn vielleicht nur an das Schicksal seiner Schachfigur erinnern sollen, doch sie hatte ihn auch beunruhigt. Er musste mehr herausfinden.
Er verneigte sich vor dem Becken, schloss die Augen und konzentrierte sich. Es war schon eine ganze Weile her, seit er sich mit einem seiner nützlichsten Agenten in Verbindung gesetzt hatte. Falls dieser noch lebte, wusste er sicher, was in der Festung vor sich ging.
Der Magier stellte sich das Gesicht dessen vor, mit dem er sprechen wollte, dann gingen seine Gedanken hinaus, und mit seiner ganzen Kraft öffnete er die Verbindung, die zwischen ihnen bestand.
»Höre mich jetzt … höre meine Stimme … es ist notwendig, dass wir miteinander sprechen … der Tag mag endlich gekommen sein, mein geduldiger Freund, der Tag der Freiheit und der Erlösung … höre mich …Rom …«
16
»Heb ihn auf!«, grunzte die grausame Stimme.
Kräftige Hände packten den benommenen Zauberer an den Oberarmen und stellten ihn auf die Beine. Ein Schwall kaltes Wasser traf ihn ins Gesicht und brachte ihn wieder vollkommen zu sich.
»Seine Hand. Diese da.« Einer derjenigen, die ihn festhielten, hob Rhonins Arm an. Jemand ergriff seine Hand, seinen kleinen Finger – und dann schrie Rhonin auf, als der Knochen brach. Er riss die Augen auf und blickte mitten in die brutale Fratze eines älteren Orks, der von Jahren des Kampfes gezeichnet war. Sein Gesichtsausdruck verriet kein Vergnügen an der Qual des Menschen, eher schon einen Anflug von Ungeduld, so als wäre er lieber ganz woanders gewesen, um Dinge von größerer Wichtigkeit zu erledigen.