»Aber er arbeitet jetzt mit den Menschen zusammen«, erwiderte ihr Wärter. »Torgus hat ihn gesehen!« Seine Hand klopfte auf den Beutel. »Nun, vielleicht sind wir selbst für ihn bereit!«
Rhonin konnte seinen Blick nicht von dem Beutel und dessen Inhalt abwenden, der seiner Form nach zu schließen ein Medaillon oder eine Scheibe zu sein schien. Welche Kraft könnte der Gegenstand besitzen, dass Nekros glaubte, er würde damit sogar mit dem gepanzerten Behemoth fertig werden?
»Es sind die Drachen, die Ihr alle wollt …« Noch einmal drehte sich Nekros zu dem Zauberer um. »Und die sollt Ihr auch bekommen. Aber du und der Dunkle Herrscher, ihr werdet nichts mehr davon haben, Mensch!« Er bewegte die Hand in Richtung der Tür. »Schafft ihn fort!«
»Töten wir ihn?«, grunzte der eine der Wächter in hoffnungsvollem Ton.
»Noch nicht! Vielleicht habe ich noch Fragen an ihn, später … vielleicht! Ihr wisst, wo ihr ihn hinzubringen habt! Ich komme gleich nach, um sicherzustellen, dass nicht mal seine Magie ihm jetzt noch helfen kann!«
Die beiden großen Orks, die Rhonin festhielten, zogen ihn mit solcher Kraft empor, dass er meinte, sie würden ihm die Arme aus den Schultern reißen. Mit verschwommenem Blick sah er, wie Nekros sich einem anderen Ork zuwandte.
»Die Arbeiten müssen schneller vorangehen! Macht die Wagen fertig, während ich mich um die Königin kümmere! Bereitet alles vor!«
Nekros entfernte sich aus Rhonins Blickfeld – und eine andere Gestalt erschien. Der Goblin, den der Ork Kryll genannt hatte, zwinkerte Rhonin zu, als teilten sie beide ein Geheimnis. Als der Zauberer den Mund öffnete, schüttelte die boshafte kleine Kreatur den übergroßen Kopf und lächelte. In seinen Händen hielt der Goblin etwas fest umschlossen, das die Aufmerksamkeit des Menschen erregte. Kryll zog eine Hand gerade solange beiseite, dass Rhonin sehen konnte, was er bei sich trug.
Deathwings Medaillon.
Und als die Wachen ihn aus der Kammer des Kommandanten schleiften, wurde dem erschöpften Magier klar, dass er jetzt wusste, wie der Drache so viele Informationen über Grim Batol hatte an sich bringen können. Er wusste auch, dass, was Nekros auch immer planen mochte, der Ork – ebenso wie Rhonin – letztlich immer genau das tun würde, was der schwarze Drachen wollte.
Obgleich sie in den Wäldern und Hügeln zuhause war, musste Vereesa zugeben, dass sie hier in der Unterwelt keinen Tunnel vom anderen unterscheiden konnte. Ihr angeborener Richtungssinn schien zu versagen – entweder das, oder aber die Tatsache, dass sie sich ständig bücken musste, lenkte sie zu sehr ab. Auch wenn inzwischen Trolle die Gänge benutzten, waren sie doch ursprünglich von Zwergen aus dem Fels gehauen worden, in den Tagen, da die Region um Grim Batol noch im Besitz einer größeren Minengesellschaft gewesen war. Dies bedeutete, dass Rom, Gimmel und auch Falstad wenig Probleme damit hatten, sich hier fortzubewegen, die groß gewachsene Elfe musste sich hingegen dauernd niederbeugen. Ihr Rücken und ihre Beine schmerzten, doch sie biss die Zähne zusammen, denn sie wollte vor diesen harten Kriegern keine Schwäche zeigen. Immerhin war es Vereesa gewesen, die sich hatte hierher begeben wollen.
Irgendwann fragte sie dennoch: »Sind wir bald da?«
»Bald, sehr bald«, antwortete Rom. Unglücklicherweise hatte er das schon häufiger versichert.
»Dieser Eingang«, bemerkte Falstad, »wo ist er noch mal gleich?«
»Der Tunnel mündet in eine ehemalige Transportstrecke für das Gold, das wir abbauten. Vielleicht könnt Ihr sogar ein paar alte Schienenstränge sehen, wenn die Orks sie nicht für ihre Waffen eingeschmolzen haben.«
»Und dieser Weg führt ins Innere des Berges?«
»Aye, Ihr könnt dem alten Stollen folgen, selbst wenn die Schienen nicht mehr da sein sollten. Sie haben allerdings Wachen aufgestellt, also wird es nicht leicht werden.«
Vereesa dachte darüber nach. »Ihr habt auch Drachen erwähnt. Wie hoch über uns?«
»Nicht Drachen am Himmel, Lady Vereesa, sondern hier am Boden. Das wird heikel, könnte man sagen.«
»Am Boden?«, schnaubte Falstad.
»Aye, solche mit verletzten Flügeln – oder sie sind nicht vertrauenswürdig genug, um herumfliegen zu dürfen. Auf dieser Seite des Berges müsste es zwei geben.«
»Am Boden …«, murmelte der Aerie-Zwerg. »Das wird ein ganz anderer Kampf …«
Rom hielt plötzlich an und zeigte geradeaus. »Da ist es, Lady Vereesa! Die Öffnung!«
Die Waldläuferin blinzelte, doch sogar mit ihren Augen, die im Dunkeln sehen konnten, vermochte sie die angebliche Öffnung nicht auszumachen.
Falstad hingegen fand sie. »Furchtbar klein. Das wird haarig werden.«
»Aye, zu eng für die Orks, und sie glauben, auch zu schmal für uns. Doch es ist ein Trick dabei«, meinte Rom.
Da sie immer noch nichts entdecken konnte, musste Vereesa sich damit zufrieden geben, den Zwergen zu folgen. Erst als sie am Ende einer Sackgasse angekommen waren, bemerkte sie ein wenig Licht, das von oben hereinfiel. Als sie näher trat, fand die Elfe einen schmalen Schlitz vor, durch den sie kaum ihr Schwert hätte schieben können, geschweige denn ihren Körper.
Sie blickte den Führer der Zwerge an. »Es gibt einen Trick, sagt Ihr?«
»Aye! Der Trick ist, dass Ihr diese Steine, die wir sorgfältig arrangiert haben, beiseite räumen müsst, damit Ihr den Spalt groß genug bekommt. Von der anderen Seite sieht es aus, als wäre es ein einziger Felsblock, und diesen zu sprengen, würde die Orks sehr viel mehr Zeit kosten, als sie aufzubringen bereit sind!«
»Aber sie wissen, dass Ihr euch hier aufhaltet, nicht wahr?«
Roms Miene wurde finster. »Aye, aber dank der Drachen haben sie von uns wenig zu fürchten. Dieser Weg ist gefährlich. Das muss Euch klar werden. Es ärgert uns, dass wir so nah sind und diese verfluchten Eindringlinge doch nicht loswerden können …«
Aus irgendeinem Grund kam es Vereesa so vor, als hätte ihr der Anführer der Zwerge damit noch nicht alles offenbart. Was er gesagt hatte, mochte wohl in gewisser Weise zutreffen, aber sein Volk schien diesen Gang nicht oft benutzt zu haben. Warum? War in der Vergangenheit etwas geschehen, das seine Leute dazu veranlasst hatte, sich von ihm fernzuhalten, oder war es wirklich einfach nur gefährlich dort?
Und wenn ja – wollte sie dieses Risiko wirklich auf sich nehmen?
Sie hatte sich schon entschieden. Wenn nicht allein für Rhonin, dann doch für all das, das sie dazu beitragen konnte, um diesen langen Krieg endlich zu beenden. Nichtsdestotrotz hoffte sie weiterhin, Rhonin lebend zu finden.
»Wir sollten anfangen. Müssen die Steine in einer bestimmten Reihenfolge herausgenommen werden?«
Rom blinzelte. »Elfherrin, Ihr müsst warten, bis es dunkel wird! Wenn Ihr früher geht, werden sie Euch sehen, so sicher wie ich hier vor Euch stehe!«
»Aber wir können nicht so lange warten!« Vereesa hatte keine Ahnung, wann die Trolle sie und Falstad gefangen genommen hatten, doch es konnte höchstens ein paar Stunden her sein.
»Es ist nur wenig mehr als eine Stunde, Lady Vereesa. Das wird Euch Euer Leben doch sicher wert sein.«
So bald schon? Die Waldläuferin sah Falstad an.
»Ihr wart sehr lange bewusstlos«, antwortete er auf ihre unausgesprochene Frage. »Eine Weile dachte ich, Ihr wäret tot.«
Die Elfe versuchte sich zu beruhigen. »In Ordnung. Wir werden bis dahin warten.«
»Gut!« Der Anführer der Hügelzwerge klatschte in die Hände. »Das gibt uns Zeit zu essen und auszuruhen!«
Eigentlich war Vereesa zu angespannt, um auch nur an Essen zu denken, doch als Gimmel ihr ein paar Minuten später das einfache Mahl anbot, nahm sie es dankend an. Dass diese armen Seelen, die so ums Überleben ringen mussten, bereitwillig mit ihnen teilten, was sie hatten, zeugte von ihrer Freundlichkeit und ihrem guten Herzen. Wenn die Zwerge es gewollt hätten, hätten sie Falstad und sie einfach umbringen können, nachdem sie die Trolle erledigt hatten. Niemand außerhalb ihrer Gruppe hätte es je erfahren müssen.