Gimmel wachte darüber, dass jeder seinen gerechten Anteil der Vorräte bekam. Nachdem er seinen Teil erhalten hatte, schritt Rom langsam davon, um, wie er sagte, einige der Seitentunnel, an denen sie vorbeigekommen waren, auf Trollspuren hin zu untersuchen. Falstad aß mit Genuss, ihm schienen das getrocknete Fleisch und die ebenfalls getrockneten Früchte ausgezeichnet zu munden. Vereesa aß mit geringerer Begeisterung, denn die getrocknete Zwergenkost war bei Menschen und Elfen nicht unbedingt beliebt. Sie wusste, dass sie das Fleisch dörrten, um es länger haltbar zu machen, und es freute sie, dass irgendjemand in diesem trostlosen Lande Früchte gefunden oder angepflanzt hatte – aber ihre empfindsamen Geschmacksnerven protestierten dagegen. Das Essen sättigte jedoch, und die Waldläuferin wusste, dass sie ihre Kräfte noch benötigen würde.
Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatte, stand Vereesa auf und schaute sich um. Falstad und die anderen hatten es sich bequem gemacht, doch die ungeduldige Elfe wollte sich etwas bewegen. Sie zog eine Grimasse, als sie daran dachte, wie ihr Lehrer sie einmal als menschlich bezeichnet hatte. Die meisten Elfen gewöhnten sich ihre Ungeduld schon früh ab, doch manche behielten diese Eigenschaft ein Leben lang. Solche Elfen neigten dann dazu, fern von ihrem Heimatland zu leben oder Dienste anzunehmen, die sie im Namen ihres Volkes auf ausgedehnte Reisen führten. Wenn sie diese Sache hier überlebte, würde sie vielleicht Weiterreisen, vielleicht sogar Dalaran besuchen.
Zu Vereesas Glück waren die Tunnel hier ein wenig höher als jene, durch die sie hergelangt waren. Die Elfe konnte sich größtenteils nur leicht gebeugt durch die Felsenstollen bewegen, manchmal konnte sie sogar aufrecht stehen.
Plötzlich hörte sie eine undeutliche Stimme aus einiger Entfernung und blieb stehen. Die Waldläuferin war bereits weiter gegangen, als sie es ursprünglich beabsichtigt hatte; vielleicht hielt sie sich schon mitten in Troll-Gebiet auf. Mit größter Vorsicht, darauf bedacht, nur ja kein Geräusch zu verursachen, zog Vereesa ihr Schwert und schlich näher an die Quelle der Laute heran.
Die Stimme klang nicht wie die eines Trolls. Und je näher sie dem Ursprungsort kam, desto mehr schien es ihr, als würde sie den Sprecher kennen – aber wie war das möglich?
»… ging nicht anders, Erhabener! Ich dachte nicht, dass Ihr wollt, dass sie von Euch wissen!« Eine Pause. »Aye, eine Elfe, schön von Gesicht und Gestalt, das ist sie.« Wieder eine Pause. »Der andere? Ein Wilder von den Aerie. Sagte, sein Reittier wäre entkommen, als die Trolle sie gefangen nahmen.«
So sehr sie es auch versuchte, Vereesa konnte denjenigen, mit dem die eine Stimme in Zwiesprache stand, nicht vernehmen. Aber wenigstens wusste sie, wen sie gerade hörte: einen Hügelzwerg, und zwar ein ihr sehr vertrauter.
Rom. Also hatte er nicht ganz die Wahrheit gesagt, als er meinte, er wolle die Tunnel inspizieren. Doch mit wem sprach er, und warum konnte sie den anderen nicht hören? War der Zwerg verrückt geworden? Sprach er mit sich selbst?
Rom war nun kaum noch zu vernehmen, außer wenn er knapp bestätigte, was sein unhörbares Gegenüber zu ihm sagte. Vereesa riskierte es, entdeckt zu werden, und schlich auf den Gang zu, aus dem die Stimme des Zwerges drang. Sie lehnte sich gerade weit genug vor, um den Zwerg mit einem Auge beobachten zu können.
Rom saß auf einem Felsen und starrte auf seine Hände, die er zusammenhielt. Von ihnen ging ein schwaches, zinnoberrotes Leuchten aus. Vereesa kniff die Augen zusammen, um zu erkennen, was sich darin befand.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten konnte sie ein kleines Medaillon erkennen, in dessen Mitte ein Juwel eingelassen war. Sie brauchte kein Zauberer zu sein, um ein Objekt der Macht, einen verzauberten Talisman zu erkennen, von Magie erschaffen. Die großen Könige der Elfen gebrauchten ähnliche Geräte, um sich untereinander oder mit ihren Dienern in Verbindung zu setzen.
Doch welcher Zauberer war es, der da mit Rom sprach? Zwerge waren eigentlich nicht dafür bekannt, dass sie die Magie liebten – oder jene, die damit umgingen.
Wenn Rom Verbindung zu einem Zauberer hatte, dem er augenscheinlich sogar diente, warum wanderten er und seine Bande dann noch in den Tunneln hemm und hofften auf den Tag, an dem sie sich endlich wieder sorglos unter freiem Himmel bewegen konnten? Dieser große Zauberer konnte doch mit Sicherheit etwas zur Erfüllung dieses Wunsches beitragen.
»Was?«, stieß Rom plötzlich hervor. »Wo?«
Mit überraschender Schnelligkeit blickte er hoch und sah direkt in Vereesas Gesicht.
Sie wich zurück, doch sie wusste, dass sie zu spät reagiert hatte. Der Zwergenanführer hatte sie gesehen – trotz der Düsternis.
»Tretet hervor, damit ich Euch sehen kann!«, rief er. Als sie zögerte, fügte Rom hinzu: »Ich weiß, dass Ihr es seid, Lady Vereesa.«
Es war sinnlos, sich weiter zu verstecken, also trat die Waldläuferin in den offenen Gang. Sie machte keine Anstalten, das Schwert wegzustecken, denn sie war unsicher, ob Rom nicht ein Verräter an seinen Freunden oder an ihr selbst war.
Er sah sie enttäuscht an. »Und ich hatte gedacht, ich wäre hier vor Euren scharfen Elfenohren sicher! Warum seid Ihr mir gefolgt?«
»Meine Absichten waren nicht böse, Rom. Ich musste mir nur ein wenig die Beine vertreten. Eure Absichten hingegen lassen viele Deutungen zu …«
»Was ich hier tue, geht Euch nichts an, oder?«
Das Juwel auf dem Medaillon strahlte kurz auf, was beide überraschte. Rom neigte seinen Kopf leicht zur Seite, als lausche er dem unhörbaren Sprecher. Wenn dem so war, wurde rasch deutlich, dass ihm nicht gefiel, was er gerade vernahm. »Glaubt Ihr, es ist weise …? Aye, ganz wie Ihr meint …«
Vereesa umfasste ihr Schwert fester. »Mit wem sprecht Ihr?«
Zu ihrer Überraschung hielt Rom ihr das Medaillon entgegen. »Er wird es Euch selbst sagen.« Als sie das dargebotene Medaillon nicht annahm, fügte er hinzu: »Er ist ein Freund, kein Feind.«
Immer noch das Schwert haltend, streckte Vereesa zögernd ihre freie Hand aus, um den Talisman entgegenzunehmen. Sie erwartete einen Schlag oder sengende Hitze, doch das Medaillon fühlte sich kühl und harmlos an.
Meine Grüße an Euch, Vereesa Windrunner.
Die Worte hallten in ihrem Kopf wider. Vereesa ließ das Medaillon beinahe fallen, nicht wegen der Stimme, sondern weil der Sprecher ihren Namen kannte. Sie blickte kurz zu Rom, der ihr ein Zeichen gab zu sprechen.
Wer seid Ihr?, verlangte die Waldläuferin zu wissen, indem sie dem unsichtbaren Sprecher ihre Gedanken schickte.
Nichts geschah. Sie blickte wieder zu dem Zwerg hin.
»Hat er etwas zu Euch gesagt?«, fragte Rom.
»In meinen Gedanken, ja. Ich antwortete auf die gleiche Weise, doch er erwidert nichts mehr.«
»Ihr müsst zu dem Medaillon sprechen! Dann wird er Eure Stimme als Gedanken wahrnehmen. Das Gleiche gilt, wenn er zu Euch spricht.« Die hundeartigen Gesichtszüge schauten entschuldigend drein. »Ich habe keine Ahnung, warum das so ist, aber so funktioniert es nun mal.«
Vereesa schaute das Medaillon an und versuchte es noch einmal.
»Wer seid Ihr?«
Ihr kennt mich durch meine Anweisungen an Eure Befehlshaber. Ich bin Krasus von den Kirin Tor.
Krasus? Das war der Name des Zauberers, der ursprünglich mit den Elfen vereinbart hatte, dass Vereesa Rhonin ans Meer führen sollte. Sie wusste wenig mehr über ihn, als dass ihre Herren mit großem Respekt auf seinen Wunsch reagiert hatten. Vereesa kannte sehr wenige Menschen, die solches von den Elfen-Königen verlangen konnten.
»Euer Name ist mir geläufig. Ihr seid auch Rhonins Schirmherr.«
Eine Pause. Eine unbehagliche Pause, wenn die Waldläuferin es richtig beurteilen konnte.
Ich bin für seine Reise verantwortlich.
»Ihr wisst, dass er vielleicht Gefangener der Orks ist?«