So schrecklich diese Gestalt auch aussah, wirkte sie doch mehr wie eine Statue als ein Lebewesen. Trotz seines dämonischen Aussehens konnte es kein Dämon sein. Rhonin hatte Golems studiert, aber noch nie einen gesehen, jedenfalls keinen, der unentwegt brannte. Doch es konnte sich um nichts anderes handeln.
Er runzelte die Stirn, als er über die Fähigkeiten nachdachte, die dieses Ungetüm wohl sein eigen nennen mochte. Es gab nur einen Weg, mehr darüber zu erfahren: Flucht!
Er versuchte die Schmerzen zu ignorieren, als er seine unverletzten Finger vorsichtig bewegte, um einen Spruch zu weben, der ihn, so betete er, von dem monströsen Wächter befreien würde …
Da streckte der Golem mit verblüffender Schnelligkeit seine Hand aus und bekam Rhonins ohnehin schon lädierten Finger zu fassen.
Der Griff war eisern.
Ein sengendes Feuer umschloss den Menschen, doch es war ein inneres Feuer, eines, das seine Seele verbrannte. Rhonin schrie wieder und wieder. So lange und laut, bis er nicht mehr schreien konnte.
Kaum noch bei Bewusstsein, fiel sein Kopf zur Seite, und er betete, dass das Feuer entweder aufhören oder ihn vollends verschlingen möge.
Der Golem zog seine Hand zurück.
Die Flammen in Rhonins Inneren erstarben. Er schnappte nach Luft und schaffte es, den Kopf so weit zu heben, dass er den tödlichen Wächter ansehen konnte. Die groteske Physiognomie des Golems starrte ihn an, völlig unberührt von der Folter, die er seinem Opfer angetan hatte.
»Verdammt – verdammt sollst du sein …!«
Hinter dem Golem ertönte ein bekannt klingendes Glucksen, das dem Magier die Haare zu Berge stehen ließ.
»Böse, böse!«, schrillte die hohe Stimme. »Wenn du mit Feuer spielst, wirst du dich daran verbrennen!«
Rhonin neigte den Kopf zur Seite – zuerst sehr vorsichtig, dann, als er sah, dass sein monströser Wächter nicht reagierte, mit weniger Zurückhaltung. Nahe beim Eingang stand der drahtige Goblin, den Nekros Kryll genannt hatte; derselbe Goblin, von dem Rhonin wusste, dass er auch für Deathwing arbeitete.
Tatsächlich trug Kryll auch jetzt das Medaillon mit dem schwarzen Kristall bei sich. Fast fand der Zauberer die Arroganz Krylls bewundernswert. Nekros würde sich doch mit Sicherheit fragen, warum sein Diener Rhonins Amulett behalten hatte.
Kryll fing seinen Blick auf. »Meister Nekros hat dich nie damit gesehen, Mensch – und wir Goblins haben eine Vorliebe für hübsche Schmuckstücke!«
Es musste noch andere Gründe geben. »Er ist auch zu beschäftigt, um es zu bemerken, nicht wahr?«
»Schlau, Mensch, sehr schlau! Und wenn du es ihm sagen würdest, würde er nicht zuhören. Armer, armer Meister Nekros! Er hat viel zu tun! Drachen- und Eier-Umzüge machen ganz schön Arbeit, weißt du?«
Der Golem schien sich überhaupt nicht um Krylls Anwesenheit zu scheren, doch das überraschte Rhonin nicht. Er würde Kryll nur angreifen, wenn dieser versuchte, den Zauberer zu befreien.
»Also dienst du Deathwing …«
Der Goblin verzog unwillkürlich das Gesicht. »Seine Befehle habe ich befolgt … ja. Sehr, sehr lange …«
»Warum bist du gekommen? Ich habe doch meinen Zweck für deinen Herrn erfüllt, oder? Ich habe den Narren gut für ihn gespielt, nicht wahr?«
Das schien Kryll aus irgendeinem Grund zu erheitern. Mit einem breiten Grinsen antwortete er: »Es hätte keinen größeren Narren geben können, denn du hast nicht nur für den dunklen Herrscher den Narren gespielt, sondern auch für mich, Mensch!«
Rhonin fiel es schwer, ihm zu glauben. »Wie habe ich das angestellt? Auf welche Art sollte ich dir dienlich gewesen sein, Goblin?«
»Auf sehr ähnliche Weise, wie du auch dem Dunklen Herrscher gedient hast – der Goblins für so dumm hält, dass sie jedem Herren ohne eigene Absichten dienen!« Ein Hauch von Bitterkeit zog über Krylls Gesicht. »Aber ich habe genug gedient, das habe ich!«
Rhonin fürchte die Stirn. Konnte es sein, dass der verrückte kleine Kerl tatsächlich meinte, was der Zauberer glaubte, dass er meinte? »Du planst, sogar den Drachen zu verraten …? Wie?«
Der groteske Goblin hüpfte fast vor Freude. »Der arme, arme Meister Nekros ist in einem schlimmen Zustand! Drachen zu transportieren, Eier auch, und stinkende Orks durch die Gegend marschieren zu lassen … da bleibt wenig Zeit zum Nachdenken, ob's das denn überhaupt ist, was andere wirklich von ihm erwarten! Vielleicht hätte er in einer anderen Situation mehr überlegt, doch jetzt, da das Bündnis von Westen her einmarschiert, hat er die Lust daran verloren! Er muss nun handeln! Muss ein Ork sein, weißt du?«
»Das ergibt keinen Sinn …«
»Narr!« Neuerliches Gelächter seitens des Goblins. »Du hast mir dies gebracht!« Er hielt das Medaillon hoch und machte ein gespielt trauriges Gesicht. »Beim Fall zerbrochen – denkt Lord Deathwing!«
Der Gefangene sah zu, wie Kryll an dem Stein in der Mitte herumzukratzen begann. Nach einer kleinen Weile fiel das Juwel in die Hand des drahtigen Goblins. Er hielt es empor, sodass Rhonin es sehen konnte. »Und hiermit – kein Deathwing mehr …«
Rhonin konnte kaum glauben, was Kryll sagte.
»Kein Deathwing mehr? Du hoffst, den Stein gegen ihn gebrauchen zu können?«
»Oder ihn zu zwingen, Kryll zu dienen! Ja, vielleicht soll er mir dienen …« Purer Hass erschien auf Krylls Gesicht. »… und ich renne nicht mehr für dieses Reptil herum! Bin nicht mehr sein Hampelmann! Habe lange geplant und schwer geschuftet, das habe ich, und gewartet und gewartet, bis er endlich eine verwundbare Stelle zeigt, jawohl!«
Gegen seinen Willen fasziniert, fragte der Magier: »Aber wie?«
Kryll zog sich zum Eingang zurück. »Nekros wird es möglich machen – nicht dass er es weiß … und dies hier …« Er warf den Stein in die Luft und fing ihn wieder auf. »Dies ist ein Teil des Dunklen Herrschers, Mensch! Eine Schuppe, durch seine eigene Magie in Stein verwandelt! So muss es sein, damit das Medaillon funktionieren kann! Du weißt, was es heißt, etwas von einem Drachen zu besitzen?« Rhonins Gedanken rasten. »Was hatte er einst darüber gehört? Eine Schuppe oder eine Kralle eines der Großen Drachen zu besitzen, heißt Kontrolle über ihre Kraft erlangen! Doch das ist noch nie geschafft worden! Du musst selbst ein ungeheurer Magier sein, um das zu bewerkstelligen! Wo …«
Der Golem reagierte auf seine plötzliche Erregung. Die gespenstischen Kiefer öffneten sich und seine knochige Hand bewegte sich auf Rhonin zu. Der verharrte völlig still, er wagte nicht einmal zu atmen. Die flammende Gestalt geriet ins Stocken, zog die Hand jedoch nicht zurück. Rhonin hielt weiter den Atem an und betete, dass das Monster sich wieder entfernte.
Kryll lachte angesichts von Rhonins Zwangslage. »Aber natürlich bist du beschäftigt, Mensch! Wollte dich nicht stören! Wollte nur irgendwem von meinem Ruhm erzählen – jemandem, der bald genug tot sein wird, eh?« Der Goblin hüpfte davon. »Muss gehen! Nekros wird meine Hilfe brauchen, ja, das wird er!«
Rhonin konnte nicht länger den Atem anhalten. Er atmete aus, wobei er hoffte, dass er lange genug gezögert hatte.
Ein Irrtum, wie sich herausstellte.
Der Golem griff nach ihm – und alle Gedanken an den verräterischen kleinen Kryll erloschen, als die Feuer Rhonin erneut von innen heraus fraßen.
Die Dunkelheit kam viel zu langsam, und doch wiederum zu schnell für Vereesa. Wie Krasus sie angewiesen hatte, hatte sie niemandem erzählt, welche Bewandtnis es mit dem Medaillon hatte, und auf Roms Bitten hin hatte sie es tief unter den Falten ihres Gewands verborgen. Ihr Reiseumhang, der mittlerweile ziemlich abgenutzt war, bedeckte es zum größten Teil, doch falls jemand genau hinschaute, würde er zumindest die Kette erkennen können.
Kurz nach ihrer Rückkehr zur Truppe hatte Rom Gimmel beiseite gezogen, um mit ihm zu sprechen. Die Elfe hatte bemerkt, wie beide ihr immer wieder Blicke zuwarfen, während sie sich unterhielten. Offensichtlich wollte Rom, dass sein Stellvertreter über Krasus' Entscheidung Bescheid wusste, und dem Gesicht nach zu urteilen, das der andere Zwerg zog, war dieser ebenso wenig davon begeistert wie Rom.