Kaum war das letzte Abendlicht versiegt, machten sich die Zwerge daran, die Steine methodisch zu entfernen. Vereesa sah keinen Grund, warum dieser oder jener Stein vor dem nächsten bewegt werden musste, aber Roms Leute ließen sich nicht davon abbringen. Schließlich setzte sie sich hin und versuchte, nicht mehr daran zu denken, wie viel Zeit vor ihren Augen verschwendet wurde.
Als die letzten Steine beseitigt waren, vernahm sie die Stimme des Zauberers in ihrem Kopf. Sofort fiel ihr auf, wie erschöpft er klang.
Der Weg nach draußen … ist er frei, Vereesa Windrunner?
Sie drehte sich um und gab vor zu husten, um zu murmeln: »Sie sind gerade fertig geworden.«
Dann könnt Ihr losgehen. Wenn Ihr draußen seid, nehmt den Talisman aus seinem Versteck. Dies wird es mir möglich machen zu sehen, was vor Euch liegt. Ich werde nicht mehr sprechen, bis Ihr und der Aerie-Zwerg aus den Tunneln heraus seid.
Als sie sich wieder umdrehte, näherte sich ihr Falstad. »Seid Ihr bereit, meine Elfherrin? Die Hügelzwerge wollen uns, so scheint mir, schnellstens loswerden.«
Tatsächlich stand Rom am Ausgang, und seine undeutlich zu erkennende Gestalt winkte den beiden ungeduldig zu. Eine Aufforderung, hinaus zu klettern. Vereesa und Falstad eilten zu ihm und an ihm vorbei. Sie zogen sich zur erweiterten Öffnung hinauf, so gut es ihnen möglich war. Der Fuß der Waldläuferin rutschte einmal ab, doch sie konnte ihr Gleichgewicht halten. Die Zugluft über ihr spornte sie an. Sie mochte die Unterwelt nicht sonderlich und hoffte, dass die Umstände es nicht erfordern würden, so bald wieder dorthin zurück zu kehren.
Falstad, der zuerst oben anlangte, streckte eine Hand aus, um ihr zu helfen. Ohne große Mühe zog er sie zu sich hoch.
Sofort begannen die Zwerge, das Loch wieder zu füllen. Es wurde schnell kleiner, noch während Vereesa sich an ihre neue Umgebung gewöhnte.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Falstad. »Hinaufklettern?«
Er zeigte zum Fuß des Berges, der auch jetzt, in der Dunkelheit, augenscheinlich eine senkrechte Steilwand besaß, die sich mehrere Hundert Fuß in die Höhe reckte. So sehr sie sich auch bemühte, konnte die Elfe keinen Zugang entdecken. Das verwunderte sie. So wie Rom sich ausgedrückt hatte, hätten sie den Eingang sofort erkennen müssen.
Sie drehte sich um, wollte nach ihm rufen, musste aber feststellen, dass fast nichts mehr von dem Spalt übrig war. Vereesa kniete sich nieder und presste ein Ohr an den Spalt, konnte aber nichts hören.
»Vergesst sie, meine Elfendame. Sie haben sich wieder versteckt.« Falstads Ton drückte Verachtung für seine Vettern aus den Hügeln aus.
Die Elfe nickte. Sie erinnerte sich wieder an Krasus' Anordnungen, öffnete ihren Umhang, nahm das Medaillon hervor und platzierte es zwischen ihren Brüsten. Vereesa hoffte, dass der Zauberer im Dunkeln sehen konnte, sonst würde er ihnen jetzt keine große Hilfe sein.
»Was ist das?«
»Hilfe … hoffe ich jedenfalls.« Krasus hatte ihr zwar aufgetragen, es für sich zu behalten, doch sicher erwartete er nicht, dass sie auch Falstad im Ungewissen ließ. Der Zwerg hätte sonst denken können, sie sei plötzlich verrückt geworden, wenn sie anfing mit sich selbst zu reden.
Ich kann alles ziemlich klar erkennen, ließ sich der Zauberer vernehmen, und sie zuckte zusammen. Danke.
»Was ist los? Warum zuckt Ihr so?«
»Falstad, weißt du, dass die Kirin Tor Rhonin auf eine Mission entsendet haben?«
»Aye, ihr weiß über diese Narretei Bescheid. Warum?«
»Dieses Medaillon hier stammt von dem Zauberer, der Rhonin auserwählt und auf seine wahre Mission geschickt hat – welche wohl auch erforderte, dass er diesen Berg betritt.«
»Aus welchem Grund?« Er klang nicht sonderlich überrascht.
»Das ist mir bisher noch nicht erklärt worden. Dieses Medaillon hier macht es dem Zauberer möglich, mit mir zu sprechen.«
»Aber ich kann nichts hören.«
»So funktioniert es leider.«
»Typisch Zauberkram«, bemerkte der Zwerg im selben Tonfall, wie er über seine Vettern gesprochen hatte.
Ihr solltet Euch auf den Weg machen, schlug Krasus vor. Vergeudet keine Zeit.
»Ist etwas mit Euch? Ihr seid schon wieder zusammengezuckt!«
»Wie ich sagte, du kannst ihn nicht hören, ich schon. Er will, dass wir aufbrechen. Er sagt, er kann uns führen.«
»Er kann sehen?«
»Durch den Kristall.«
Falstad trat vor das Medaillon und stieß mit dem Finger gegen den Stein. »Ich schwöre bei den Aerie, wenn du ein falsches Spiel treibst, wird mein Geist dich auf ewig jagen, Zauberer! Ich schwöre es!«
Sag dem Zwerg, unsere Interessen ähneln sich sehr.
Vereesa wiederholte diese Aussage für Falstad, der sie widerwillig akzeptierte. Die Elfe hatte ihre eigenen Vorbehalte, doch sie behielt sie für sich. Krasus hatte gesagt, ihre Interessen seien »ähnlich«. Das musste nicht bedeuten, dass sie identisch waren.
Trotz dieser Gedanken wiederholte sie Krasus' Anweisungen minutiös, denn sie erwartete, dass er sie wenigstens ins Innere des Berges führen würde. Zuerst wirkten seine Richtungsangaben seltsam, denn sie zwangen sie dazu, den Berg in einer, wie es schien, viel zu zeitraubende Weise zu umrunden. Doch schließlich gelangten sie auf einen bequemeren Weg, der sie bald zu einem hohen, aber schmalen Höhleneingang führte, von dem Vereesa annahm, dass dies endlich der Weg ins Innere war. Falls nicht, würde sie mit ihrem dubiosen Führer ein Wörtchen wechseln müssen.
Eine alte Zwergenmine, sagte Krasus. Die Orks denken, sie würde nirgendwo hinführen.
Vereesa betrachtete sie, so gut es in der Dunkelheit möglich war. »Warum haben Rom und seine Leute sie nicht benutzt, wenn sie nach draußen führt?«
Weil sie geduldig gewartet haben.
Sie wollte fragen, worauf sie denn gewartet hatten, doch plötzlich ergriff Falstad ihren Arm.
»Hört Ihr das?«, wisperte der Greifenreiter. »Da kommt jemand!«
Sie verbargen sich gerade noch rechtzeitig hinter einem Vorsprung. Eine furchterregende Gestalt schritt zielstrebig auf die Höhle zu und zischte dabei.
Vereesa sah den Kopf des Drachen hin und her rücken, während er sich umblickte; die roten Augen glühten schwach im Dunkel.
»Und hier ist noch ein viel besserer Grund, warum sie diesen Weg nie benutzt haben«, murmelte Falstad, »Ich wusste, es war zu schön, um wahr sein zu können!«
Der Drachenkopf beruhigte sich etwas. Das Untier bewegte sich in ihre Richtung.
Ihr müsst still sein. Die Ohren eines Drachen sind sehr scharf.
Diese überflüssige Information gab die Elfe nicht weiter. Sie griff nach ihrem Schwert, als das Ungetüm ein paar weitere Schritte auf sie zu machte. Es war nicht annähernd so groß wie Deathwing, aber groß genug, um Falstad und sie mit Leichtigkeit zu vernichten.
Dann sah Vereesa die Flügel, die sich hinter seinem Kopf spannten. Dank ihrer nachtsichtigen Augen konnte sie erkennen, dass sie unterentwickelt waren. Kein Wunder, dass dieser Drachen den Wachhund für die Orks markierte. Aber, davon abgesehen, wo war sein Reiter? Die Orks ließen einen Drachen niemals alleine, auch wenn er nicht fliegen konnte.
Ein bellendes Kommando beantwortete ihre Frage. Von weit hinter dem Drachen tauchte eine schwebende Fackel auf, die, wie Vereesa beim Näherkommen sah, von der Faust eines bulligen Orks umklammert wurde. In der anderen Hand hielt er ein Schwert, fast so lang wie die Elfe. Die Wache brüllte dem Drachen etwas zu, der wütend fauchte. Der Ork wiederholte seinen Befehl.
Langsam wandte sich das Ungeheuer wieder vom Versteck der beiden ab. Vereesa hielt den Atem an. Sie hoffte inständig, dass der Krieger und sein »Hündchen« bald wieder abzogen.