Sie blickte zu Rhonin, der sich tiefer in den Wald geflüchtet hatte. Natürlich! Irgendwie hatte es damit zu tun, dass ihr Begleiter ein Zauberer war. Drachen besaßen noch sensiblere Sinne als Elfen. Manche sagten, sie könnten bis zu einem gewissen Grad Magie wittern. Irgendwie musste diese katastrophale Eskalation der Ereignisse die Schuld des Zauberers sein. Der Ork und sein Drache waren seinetwegen gekommen!
Rhonin dachte augenscheinlich Ähnliches, denn er verschwand so schnell er konnte zwischen den Bäumen auf der gegenüberliegenden Seite.
Die Waldläuferin schnaubte. Zauberer waren nicht geschaffen für die Front. Es war eine Sache, jemanden aus sicherer Entfernung anzugreifen oder rücklings, doch sobald sie einem Feind offen die Stirn bieten mussten …
Immerhin, es war ein Drache.
Er jagte im Sturzflug auf den flüchtenden Menschen herab, und gleichgültig, was sie persönlich über Rhonin dachte, Vereesa wollte nicht, dass er starb. Doch so sehr sie sich auch suchend umschaute, die silberhaarige Waldläuferin konnte nichts finden, womit sie dem Zauberer hätte helfen können. Ihr Pferd war mit dem seinen umgekommen, und auch ihr guter Bogen war für immer verloren. Alles was ihr noch blieb, war ihr Schwert. Nicht gerade die ideale Waffe, um etwas gegen einen tobenden Titanen auszurichten. Wieder blickte sie sich suchend um, fand aber nichts Brauchbares.
Das ließ ihr wenig Handlungsspielraum. Als Waldläuferin war es ihre Pflicht, dem Zauberer zu helfen, ganz gleich wie. Also tat Vereesa tat das Einzige, was sie überhaupt noch tun konnte, um ihm vielleicht doch noch das Leben zu retten.
Die Elfe sprang aus ihrem Versteck auf, gestikulierte wild mit ihren Armen und schrie: »Hier! Hier drüben, du Eidechsenbrut! Hier!«
Der Drache hörte sie nicht, seine Aufmerksamkeit – Vereesa hatte mittlerweile festgestellt, dass sie es mit einem männlichen Vertreter seiner Gattung zu tun hatten – widmete sich ganz dem brennenden Wald unter ihm. Irgendwo in dem Inferno kämpfte Rhonin ums nackte Überleben. Der Drache versuchte, ihm dies unmöglich zu machen.
Fluchend schaute sich die Elfenkriegerin um und fand einen schweren Stein. Für einen Menschen wäre das, was sie vorhatte, fast unmöglich gewesen – nicht so für sie. Vereesa hoffte nur, dass ihre Zielkünste noch so gut waren wie vor ein paar Jahren …
Sie lehnte sich zurück, um dem roten Leviathan den Stein an den Kopf zu werfen. Sie hatte ihn weit genug geschleudert, doch plötzlich bewegte sich der Drache, und einen Moment lang fürchtete Vereesa, der Stein würde ihn völlig verfehlen.
Er traf zwar nicht den Kopf, streifte aber den Flügel. Vereesa hatte nicht erwartet, das Biest spürbar zu verletzen – ein einfacher Stein gegen harte Drachenschuppen war eine nahezu lächerliche Waffe –, erhoffte sich aber, die volle Aufmerksamkeit des Tieres auf sich zu ziehen.
Und das gelang ihr.
Der massige Kopf drehte sich sofort zu ihr um, und der Drache brüllte seine Wut über die Störung hinaus, worauf der Ork seinem Reittier etwas Unverständliches zuschrie.
Das große geflügelte Wesen drehte bei und steuerte genau auf die Elfe zu. Sie hatte es also geschafft, ihn von dem glücklosen Magier abzulenken.
Und was jetzt?, schalt sich die Waldläuferin.
Sie drehte sich um und rannte los, obwohl sie wusste, dass sie gegenüber einem monströsen Verfolger wie diesem keine Chance hatte.
Die Baumwipfel über ihr zerbarsten im Feuer, als der Drache die Landschaft damit überzog. Brennendes Gezweig stürzte vor ihr nieder und versperrte ihr den Weg, den sie hatte nehmen wollen.
Ohne Zögern wandte sie sich nach links und tauchte zwischen Bäumen unter, die noch nicht Teil des Infernos geworden waren.
Du wirst sterben! Und alles nur wegen diesem nutzlosen Zauberer!
Ohrenbetäubendes Brüllen veranlasste sie, über ihre Schulter zu spähen. Der rote Drache hatte sie fast erreicht und fuhr gerade seine Krallen aus, um nach der fliehende Waldläuferin zu schnappen. Vereesa war überzeugt, von den Klauen zerquetscht oder, schlimmer noch, in das fürchterliche Maul des Tatzelwurms gezerrt zu werden, wo dessen mächtige Kiefer sie entweder erst zermalmen oder gleich in einem Bissen hinunterschlucken würden.
Doch als der Tod schon unausweichlich schien, zog der Drache plötzlich seine Krallen zurück und krümmte sich in der Luft. Die Klauen rissen an seinem eigenen Körper. Das hieß, seine sämtlichen Nägel versuchten, überall zugleich zu kratzen, gerade so, als ob … als ob der Leviathan unter einem unbeschreiblichen Juckreiz litte.
Auf seinem Rücken saß der Ork und kämpfte um die Kontrolle, doch er hätte ebenso gut der Floh sein können, der den Drachen stach, so wenig gehorchte dieser ihm jetzt noch.
Vereesa stand da und konnte nur starren. Einen solch seltsamen Anblick hatte sie noch nie zuvor erlebt. Der Drache drehte und wendete sich, um seine Pein loszuwerden, und seine Bewegungen wurden immer heftiger. Sein Ork-Reiter konnte sich kaum noch festhalten. Was, fragte sich die Elfe, konnte dem Monster so heftig zusetzen?
Die Antwort, die ihr schließlich einfiel, flüsterte sie nur: »Rhonin …?«
Und als ob sie mit dem Aussprechen des Namens einen Geist heraufbeschworen hätte, stand der Magier unvermittelt vor ihr. Sein feuerfarbenes Haar war zerzaust und seine dunkle Robe voller Schlamm und zerfetzt, doch aus dem Konzept schien ihn das nicht zu bringen.
»Ich denke, es wäre besser, von hier zu verschwinden, so lange wir noch dazu in der Lage sind, oder, Elf?«
Das brauchte er ihr nicht zweimal zu sagen.
Und dieses Mal war es Rhonin, der sie führte. Er gebrauchte dazu irgendeine Kunst, irgendeinen Zauber, und lotste sie damit durch den brennenden Wald. Vereesa selber hätte es nicht besser vermocht. Rhonin führte sie auf Pfaden, die die Elfe noch nicht einmal gesehen hatte, bis sie diese entlang schritten.
Die ganze Zeit pflügte der Drache durch die Lüfte über ihnen, immer noch an seiner Haut kratzend. Einmal sah Vereesa auf und stellte fest, dass er es geschafft hatte, sich mit einer der wenigen Waffen, die Drachenhaut durchdringen konnten, zu verletzen – mit seinen eigenen Drachenkrallen.
Von dem Ork war nichts mehr zu sehen, irgendwann hatte der Krieger mit den Stoßzähnen wohl seinen Halt verloren und war abgestürzt. Vereesa hatte keinerlei Bedauern für ihn übrig.
»Was habt Ihr mit dem Drachen gemacht?«, konnte sie endlich hervorstoßen.
Rhonin, der immer noch damit beschäftigt war, einen Ausweg aus den Flammen zu finden, drehte sich nicht zu ihr um. »Etwas, das nicht so geklappt hat, wie ich es wollte. Er hätte mehr erleiden müssen als nur einen starken Juckreiz!«
Er klang wirklich zornig über sich selbst, aber die Waldläuferin war zum ersten Mal beeindruckt von ihm. Er hatte sie vor dem sicheren Tode gerettet – falls sie diesem Wald je entkamen.
Hinter ihnen brüllte der Drache vor Wut und Frustration.
»Wie lange wird es anhalten?«
Endlich stoppte er und sah sie an. Was sie in seinem Blick lesen konnte, beunruhigte sie sehr. »Auf jeden Fall nicht lange genug …«
Sie verdoppelten ihre Anstrengungen. Das Feuer umzingelte sie fast vollständig, doch irgendwann erreichten sie seinen Rand, rannten weiter in eine Gegend, durch die nur dichter schwarzer Rauch trieb. Hustend stolperten sie weiter auf der Suche nach einer rettenden Schneise, wo der Wind von vorne blies und dadurch Feuer und Rauch hinter ihnen zurückhalten würde.
Ein neuerliches Brüllen schreckte sie auf, denn es klang nicht mehr gequält, sondern wütend und rachsüchtig. Der Zauberer und die Waldläuferin drehten sich um und spähten in die Richtung der roten Bestie.
»Der Zauber hat seine Wirkung verloren«, murmelte Rhonin unnötigerweise.
Er hatte Recht, und Vereesa konnte sehen, dass der Drache genau wusste, wer für seine Schmerzen verantwortlich war. Mit fast unfehlbarer Sicherheit kam der Drache auf sie zu, um sie zu vernichten. Seine riesigen ledrigen Flügel peitschten die Luft.