»Wie lange geht es ihm schon so schlecht?«
Brogas schluckte. »Ungefähr seit letzter Nacht … Aber vor ein paar Stunden sah er bedeutend besser aus!«
Nekros fuhr zu dem Pfleger herum. »Narr! Du hättest mich früher rufen müssen!«
Er hätte den anderen Ork fast geschlagen, erkannte jedoch noch rechtzeitig, wie nutzlos eine frühere Alarmierung über die Befindlichkeit des Drachen gewesen wäre. Er wusste schon seit geraumer Zeit, dass er den älteren Drachen verlieren würde, hatte es vor sich selbst nur nicht eingestehen wollen.
»Was machen wir jetzt, Nekros? Zuluhed wird wütend sein. Unsere Schädel wird er auf Pfähle spießen!«
Nekros verzog das Gesicht. Auch er hatte sich dies gerade vorgestellt und entschieden, dass es ihm überhaupt nicht gefiel. »Wir haben keine Wahl. Bereite ihn auf die Reise vor. Er kommt mit, ob lebendig oder tot! Zuluhed soll machen, was er für richtig hält!«
»Aber Nekros …«
Jetzt schlug der einbeinige Ork seinen Untergebenen. »Weinerlicher Narr! Befolge den Befehl!«
Eingeschüchtert nickte Brogas und eilte davon, zweifellos, um die ihm unterstellten Pfleger zu misshandeln, während sie versuchten Nekros' Befehle zu befolgen. Ja, Tyran würde mit den anderen reisen, ob er noch atmete oder nicht. Er würde zumindest als Ablenkung für den Feind dienen …
Nekros trat einen Schritt näher und betrachtete den großen Drachen genauer. Die fleckigen Schuppen, der ungleichmäßige Atem, die fehlende Bewegung … nein, Alexstraszas Begleiter hatte nicht mehr lange in dieser Welt zu leben.
»Nekros«, krächzte die Stimme der Drachenkönigin plötzlich. »Nekros … ich kann deine Nähe riechen …«
Der schwergewichtige Ork suchte nach einem Ausweg, um sich nicht um seine eigene Haut sorgen zu müssen, sobald Tyran gestorben war. Also machte er sich auf zur Kammer der Königin. Wie immer griff er in seine Gürteltasche und legte eine Hand als Vorsichtsmaßnahme auf die Dämonenseele.
Durch halb geschlossene Augen sah Alexstrasza zu, wie er eintrat. Auch sie war in letzter Zeit kränklich gewesen, aber Nekros wollte nicht glauben, dass er auch sie verlieren würde. Vermutlich wusste sie einfach nur, dass ihr letzter Begleiter im Sterben lag. Nekros wünschte, einer der anderen Drachen hätte überlebt. Sie waren wesentlich jünger und kräftiger als Tyran gewesen.
»Was gibt es, meine ‚Königin‘?«
»Nekros, warum hältst du an diesem Irrsinn fest?«
Er grunzte. »Ist das alles, was du von mir willst, Weib? Ich habe Wichtigeres zu tun, als deine albernen Fragen zu beantworten!«
Die Drachenkönigin schnaubte. »All deine Mühen werden mit deinem Tod enden. Du hättest die Möglichkeit dich und deine Männer zu retten, aber du ergreifst sie nicht.«
»Wir sind kein feiger hinterhältiger Abschaum wie Orgrim Doomhammer. Der Dragonmaw-Clan kämpft bis zum letzten Blutstropfen!«
»Die Flucht nach Norden … Kämpft ihr so?«
Nekros Skullcrusher zog die Dämonenseele hervor. »Es gibt Dinge, von denen verstehst selbst du nichts! Es gibt Zeiten, in denen die Flucht geradewegs in den Kampf führt!«
Alexstrasza seufzte. »Ich kann nicht zu dir durchdringen, oder Nekros?«
»Zumindest lernst du.«
»Sag mir dann dies: Was wolltest du in Tyrans Kammer? Was fehlt ihm?« Die Augen und der Tonfall in der Stimme der Königin verrieten ihre Sorge um ihren Begleiter.
»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Königin'! Denke lieber an dich selbst. Wir werden dich bald bewegen müssen. Benimm dich, und es wird kaum schmerzen …«
Mit diesen Worten steckte er die Dämonenseele ein und verließ Alexstrasza. Die Drachenkönigin rief noch einmal seinen Namen, zweifellos um mehr über das Befinden ihres Begleiters in Erfahrung zu bringen, aber Nekros konnte nicht noch weitere Zeit mit den Gedanken an Drachen verschwenden – zumindest nicht an rote.
Auch wenn die Kolonne Grim Batol verlassen würde, bevor die Invasoren der Allianz eintrafen, wusste der Ork-Kommandant mit absoluter Sicherheit, dass ein Wesen rechtzeitig auftauchen und angreifen würde. Deathwing würde kommen. Der schwarze Leviathan würde am Morgen eintreffen – nur wegen eines einzigen Wesens.
Alexstrasza …Der schwarze Drache würde wegen seiner großen Rivalin erscheinen.
»Lasst sie alle kommen!«, zischte der Ork sich selbst zu. »Alle. Solange der Dunkle nur als Erster hier ist …« Er strich über die Tasche, in der er die Dämonenseele aufbewahrte. »… und dann wird Deathwing schon den Rest erledigen.«
Rhonin erlangte nur langsam die Besinnung zurück. Selbst in seinem geschwächten Zustand blieb der Zauberer danach ruhig liegen und erinnerte sich daran, was beim letzten Mal geschehen war. Er wollte nicht, dass der Golem ihm erneut das Bewusstsein raubte – vor allem, weil Rhonin fürchtete, dass er dann nicht noch einmal zurückfinden würde.
Erst als seine Stärke zurückkehrte, öffnete der gefangene Zauberer vorsichtig die Augen.
Der flammende Golem war nirgendwo zu sehen.
Überrascht hob Rhonin den Kopf und öffnete die Augen weit.
Er hatte die Bewegung kaum beendet, als die Luft vor ihm flimmerte und Hunderte kleiner Feuerbälle aus dem Nichts entstanden. Die brennenden Kugeln drehten sich, flossen zusammen und bildeten einen grob menschlichen Umriss, der innerhalb eines Atemzugs Substanz gewann.
Der riesige Golem entstand erneut in all seiner Pracht.
Rhonin, der das Schlimmste erwartete, senkte den Kopf und schloss gleichzeitig die Augen. Er harrte der entsetzlichen Berührung durch die magische Kreatur … und harrte und harrte. Schließlich siegte seine Neugier über die Furcht, und er öffnete vorsichtig ein Auge und sah, dass der Golem erneut verschwunden war.
Rhonin wusste nun, dass er von ihm auch dann unter Beobachtung gehalten wurde, wenn er nicht zu sehen war. Nekros wollte anscheinend mit ihm spielen, obwohl es vielleicht auch Kryll war, von dem dieser neueste Trick stammte. Die Hoffnung des Zauberers verging.
Vielleicht war es besser so. Immerhin hatte er doch geglaubt, dass sein Tod denen gefallen würde, die seinetwegen gestorben waren. Würde er auf diese Weise also nicht wenigstens seine Schuld endlich sühnen?
Rhonin konnte nichts tun, also ergab er sich in sein Schicksal und achtete weder auf das Verstreichen der Zeit, noch auf die Geräusche der Orks, die ihre Vorbereitungen für die Abreise abschlossen. Wenn Nekros zurückkehrte, würde er den Zauberer entweder mitnehmen oder, was wahrscheinlicher war, Rhonin ein letztes Mal verhören und anschließend hinrichten.
Und Rhonin konnte nichts dagegen tun.
Irgendwann, als er seine Augen erneut schloss, überkam ihn die Müdigkeit und entführte ihn in einen angenehmen Schlummer. Rhonin träumte von vielen Dingen – Drachen, Ghouls, Zwergen … und von Vereesa. Der Traum von der Elfe brachte Ruhe in seine besorgten Gedanken. Er hatte sie nur für kurze Zeit gekannt, aber ihr Gesicht tauchte immer häufiger in seinem Geist auf. In einer anderen Zeit, an einem anderen Ort hätte er sie vielleicht besser kennen lernen können.
Die Elfe stand so sehr im Zentrum seines Traums, dass Rhonin sogar ihre Stimme hören konnte. Sie rief seinen Namen immer und immer wieder, zuerst sehnsüchtig und dann, als er nicht antwortete, mit wachsender Besorgnis … »Rhonin!« Ihre Stimme war entfernt, war nicht mehr als ein Flüstern, schien jedoch an Substanz zuzulegen.
»Rhonin!«
Dieses Mal riss ihn ihr Ruf aus seinen Träumen und zerrte ihn aus seinem Schlaf. Rhonin kämpfte dagegen an, denn er hatte keine Sehnsucht nach seiner Zelle und dem bevorstehenden Tod.