»Ysera«, flüsterte der rote Drache in ehrerbietigem Tonfall.
Sie beachtete ihn nicht sofort, sondern beantwortete zunächst Rhonins Frage. »Deathwing hat die Dämonenseele erschaffen, aus gutem Grund, wie wir damals glaubten.« Sie ging auf den Zauberer zu. »Wir glaubten so fest daran, dass wir alles taten, was er verlangte und dem Artefakt einen Teil unserer Macht überließen.«
»Aber er gab nichts von seiner Macht hinein, nichts von seiner Macht!«, sagte eine männliche Stimme – wütend und nicht bei klarem Verstand. »Sag's ihm, Ysera. Sag ihm, wie er sich nach dem Sieg über die Dämonen gegen uns stellte und unsere eigene Kraft gegen uns einsetzte!«
Auf einem großen Felsen kauerte eine skelettierte, nicht wirklich menschliche Gestalt mit wirrem blauem Haar und silberner Haut. Sie trug eine Robe mit hohem Kragen, die aus den gleichen Farben bestand und sah aus wie ein irrer Hofnarr. Die Augen des Wesens leuchteten. Dolchartige Finger schabten über den Stein, auf dem es saß und rissen tiefe Furchen.
»Er wird erfahren, was er erfahren muss, Malygos. Nicht mehr und nicht weniger.« Sie lächelte leicht. Je länger Rhonin sie betrachtete, desto mehr erinnerte sie ihn an Vereesa, aber an Vereesa, so wie er sie im Traum gesehen hatte. »Ja, Deathwing vergaß diesen Teil zu erwähnen und gab vor, das gleiche Opfer erbracht zu haben wie wir. Erst als er beschloss, die Zukunft unseres Volkes zu sein, entdeckten wir die schreckliche Wahrheit.«
In diesem Moment begriff Rhonin, dass Ysera und Malygos von dem schwarzen Drachen als einem der ihren sprachen. Er wandte sich dem roten Drachen zu und fragte lautlos das Wesen, das er als Krasus gekannt hatte, ob seine Vermutungen stimmten.
»Ja …«, antwortete der Drache. »Sie sind das, was du glaubst. Es sind zwei der fünf großen Drachen, die in den Legenden als die Aspekte der Welt bezeichnet werden.«
Der rote Riese schien Stärke aus ihrer Ankunft zu ziehen. »Ysera … sie ist die Herrin der Träume, Malygos … die personifizierte Magie …«
»Wir verschwenden hier unsere Zeit«, murmelte eine dritte, ebenfalls männliche Stimme. »Wertvolle Zeit …«
»Und Nozdormu, der Herr der Zeit, ist auch hier …«, wunderte sich der rote Drache. »Ihr seid alle gekommen.«
Eine verhüllte Gestalt, die aus Sand zu bestehen schien, stand neben Ysera. Unter der Kapuze erschien ein Gesicht, das so vertrocknet wirkte, dass die Haut kaum die Knochen bedeckte. Juwelenaugen starrten den Drachen und den Zauberer mit wachsender Ungeduld an. »Ja, wir sind gekommen. Und wenn dieses Treffen noch länger dauert, dann werde ich auch wieder gehen. Ich muss soviel sammeln, soviel katalogisieren.«
»Soviel quatschen, soviel quatschen«, stichelte Malygos von seinem felsigen Sitz aus.
Nozdormu hob eine verwitterte und dennoch starke Hand und zeigte auf den Narr. Der streckte ihm seine dolchartigen Krallen entgegen. Für einen Moment sah es so aus, als bereiteten sich beide auf einen körperlichen oder magischen Kampf vor, doch die geisterhafte Frau trat zwischen sie.
»Deshalb steht Deathwing kurz vor seinem Triumph«, sagte sie.
Die beiden wichen zögernd zurück. Ysera sah alle mit immer noch geschlossenen Augen an.
»Deathwing hätte uns einst beinahe besiegt, doch dann schlossen wir uns wieder zusammen und sorgten dafür, dass er die Dämonenseele nie wieder benutzen konnte. Wir entrissen sie seiner Hand und schleuderten sie in die Tiefen der Erde …«
»Aber jemand fand sie für ihn«, unterbrach der rote Drache. Jetzt, wo die Hoffnung zurückgekehrt war, riss er sich so weit es ging zusammen. »Ich glaube, dass er die Orks dorthin geführt hat, weil er wusste, was sie tun würden, wenn ihnen das Artefakt in die Hände fiel. Er kann es vielleicht nicht mehr selbst einsetzen, aber er kann sicherlich andere dazu bringen, es zu seinem Vorteil zu benutzen – auch wenn diese anderen das vielleicht nicht begreifen. Ich glaube, dass Alexstraszas Gefangennahme in seine Pläne passte, denn sie war die einzige Macht, die er fürchtete. Außerdem half er damit der Horde Chaos und Zerstörung über die Welt zu bringen, ohne dass er auch nur eine Klaue bewegen musste. Nun, da die Horde ihn enttäuscht hat, passt es besser in seine Pläne, wenn sie fortgebracht wird.«
»Nicht sie«, korrigierte Ysera, »ihre Eier.«
»Ihre Eier?«, stieß der ehemalige Krasus hervor. »Nicht meine Königin?«
»Ja, die Eier. Du weißt doch, dass die letzte seiner Gefährtinnen in den ersten Tagen des Kriegs getötet wurde«, antwortete sie. »Sie starb durch seinen eigenen Leichtsinn … und nun will er die Nachkommen unserer Schwester als seine eigenen aufziehen.«
»Um ein neues Zeitalter der Drachen einzuleiten«, zischte Nozdormu. »Das Zeitalter von Deathwings Drachenbrut!«
Plötzlich bemerkte Rhonin, dass die vier, sogar Ysera mit ihren geschlossenen Augen, ihn anstarrten.
»Wir können die Dämonenseele nicht berühren, Mensch, und aus Misstrauen haben wir nie einem anderen Wesen erlaubt, sie für uns zu benutzen. Ich glaube, ich weiß, weshalb der arme Korialstrasz dich von deinen Freunden weggerissen und hierher gebracht hat. Es erscheint ihm vielleicht als die beste Lösung, aber nicht er wird Deathwing ablenken.«
»Es ist meine Pflicht«, rief der Rote. »Es ist meine Buße.«
»Das wäre reine Verschwendung. Du lässt dich von der Scheibe zu leicht beeinflussen. Außerdem wirst du für etwas anderes benötigt. Tyran, der jetzt für seine Königin und seinen Wächter kämpft, wird nicht überleben. Alexstrasza wird dich dann benötigen, mein lieber Korial.«
»Außerdem ist Deathwing unser Bruder«, stichelte Malygos. Seine Klauen gruben sich tiefer in den Fels. »Es gehört sich für uns, mit ihm zu spielen. Mit ihm zu spielen.«
»Und was wollt ihr von mir?«, fragte Rhonin gespannt und auch ein wenig nervös. Er wollte schließlich nichts mehr, als zu Vereesa zurückzukehren.
Ysera sah ihn an – und ihre Augen öffneten sich. Für einen kurzen Moment wurde der Mensch von Schwindel ergriffen. Die traumartigen Augen, die ihn anstarrten, erinnerten ihn an jeden, den er je gekannt, geliebt oder gehasst hatte. »Du, Sterblicher, musst dem Ork die Dämonenseele entreißen. Ohne sie kann er uns nicht das antun, was er unserer Schwester angetan hat. Wenn dir die Scheibe gehört, kannst du sie vielleicht befreien.«
»Aber das hilft uns nicht gegen Deathwing«, beharrte Korialstrasz. »Und wegen der verfluchten Scheibe ist er stärker als ihr alle zusammen.«
»Eine Tatsache, die uns bekannt ist«, fauchte Nozdormu. »Und auch du wusstest das, als du zu uns kamst. Jetzt hast du uns. Sei damit zufrieden.« Er sah seine Begleiter an. »Genug geredet. Lasst uns beginnen.«
Ysera, die ihre Augen wieder geschlossen hatte, wandte sich an den Drachen. »Es gibt etwas, das du tun musst, Korialstrasz, aber es ist riskant. Dieser Mensch kann nicht einfach inmitten der Orks auftauchen. Durch die Dämonenseele ist das zu riskant, und es bestünde die Gefahr, dass er sich unter einer Axt wiederfinden würde. Stattdessen musst du ihn dorthin tragen und beten, dass in den wenigen Sekunden, in denen du dem Ork nahe bist, dieser dich nicht mit der Scheibe unter seine Kontrolle bringt.« Sie ging zu dem gefallenen Drachen und berührte die Spitze seiner Schnauze. »Du gehörst nicht zu uns, auch wenn du ihr Begleiter bist, Korialstrasz. Trotzdem hast du der Macht der Scheibe widerstanden und bist geflohen.«
»Ich habe hart gearbeitet, um mich darauf vorzubereiten, Ysera. Ich dachte, meine Schutzzauber seien stark genug, doch letzten Endes habe ich versagt.«
»Wir können das für sich tun.« Plötzlich standen Malygos und Nozdormu neben ihr. Alle drei berührten mit ihrer linken Hand Korialstraszs Schnauze. »Die Dämonenseele hat uns so viel Macht genommen, dass ein wenig mehr Verlust nicht schaden wird.«