Mit diesen Worten erhob sich die Drachenkönigin in die Lüfte. Beinahe zufällig wischte ihr zuckender Schwanz zwei angreifende Orks hinweg, ohne deren Zwergengegner auch nur zu berühren.
»Wir müssen doch etwas tun können!« Rhonin sah sich nach der Dämonenseele um. Irgendwo musste sie sein.
»Denkt nicht darüber nach.« Vereesa wich der Axt eines Orks aus und durchbohrte ihn mit ihrer Klinge. »Wir müssen uns selbst retten.«
Trotz der um ihn herum tobenden Schlacht setzte Rhonin seine Suche fort. Plötzlich fiel sein Blick auf einen glänzenden Gegenstand, der halb vom Arm eines toten Ork bedeckt wurde. Der Zauberer lief hoffend und zweifelnd zugleich darauf zu.
Es war tatsächlich das Artefakt der Drachen. Rhonin betrachtete es mit unverhohlener Begeisterung. Es war so schlicht und verfügte dennoch über Kräfte, die weit über die von Zauberern hinausgingen – abgesehen vielleicht vom berüchtigten Medivh. Soviel Macht. Damit hätte Nekros Kriegshäuptling der Horde werden können. Und Rhonin konnte sich mit seiner Hilfe zum Herrn über Dalaran aufschwingen, zum Imperator über alle Königreiche von Lordaeron …
Was dachte er da? Rhonin schüttelte den Kopf und vertrieb die unguten Gedanken. Die Dämonenseele konnte mit ihrer Macht verführen, darauf musste er achten.
Falstad kam auf seinem Greifen zu ihnen herunter. Irgendwo hatte er die Streitaxt eines Orks gefunden, die er offenbar auch schon eingesetzt hatte.
»Zauberer! Worauf wartest du? Rom und seine Männer schlagen die Orks vielleicht in die Flucht, aber das ist kein Grand hier herumzustehen und irgendwelche Scheiben anzustarren.«
Rhonin ignorierte ihn, wie er auch Vereesa ignorierte. Irgendwie musste der Schlüssel zu Deathwings Untergang in der Dämonenseele liegen. Es gab doch keine andere Macht mehr, die dazu imstande gewesen wäre, wenn selbst vier riesige Drachen mit ihren vereinten Kräften nicht in der Lage waren, etwas auszurichten!
Dies mochte aber auch bedeuten, dass vielleicht gar nichts mehr Deathwing vom Erreichen seiner Ziele abhalten konnte …
Sie schleuderten ihm ihre gesamte Macht entgegen – oder was davon noch übrig war. Sie griffen Deathwing auf körperlicher und magischer Ebene an, aber er schien dies kaum zu bemerken. Ganz gleich, wie hart sie gegen ihn vorgingen, es wurde immer deutlicher, dass ihre Kraft durch die weit zurückliegende Erschaffung der Dämonenseele so geschwunden war, dass sie dem schwarzen Leviathan hilflos wie Kleinkinder gegenüberstanden.
Nozdormu schleuderte ihm den Sand der Zeit entgegen, der zumindest für einen Moment drohte, Deathwings Jugend auszulöschen. Deathwing spürte, wie die Schwäche durch seinen Körper strich, fühlte, wie seine Knochen spröder und seine Gedanken langsamer wurden. Doch bevor die Veränderungen endgültig wurden, explodierte brutale Kraft in dem Drachen des Chaos, verbrannte den Sand und löschte den anspruchsvollen Zauberspruch aus.
Malygos wagte einen direkteren Angriff. Die Wut des wahnsinnigen Drachen machte ihn der Macht Deathwings beinahe ebenbürtig, aber auch nur für einen Augenblick. Eisige Lichtspeere hagelten seinem verhassten Gegner von allen Seiten entgegen, waren gleichzeitig entsetzlich heiß und betäubend kalt und schlugen auf Deathwing ein. Doch die magischen Metallplatten, die in die Haut des schwarzen Drachen eingelassen waren, wehrten fast den gesamten tosenden Sturm ab, sodass Deathwing dem Rest mit Leichtigkeit widerstehen konnte.
Von allen stellte sich jedoch Ysera als seine listigste und gefährlichste Gegnerin heraus. Anfangs hielt sie sich zurück und schien sich damit zufrieden zu geben, ihre Mitstreiter gegen ihn anrennen zu lassen. Dann jedoch bemerkte Deathwing eine Gleichgültigkeit in sich selbst, eine Zufriedenheit, die zur Ablenkung führte. Beinahe zu spät bemerkte er, dass er in einen Tagtraum geglitten war. Er schüttelte den Kopf, um die Spinnweben, die sich über seinen Geist gelegt hatten, zu vertreiben. Im gleichen Moment versuchten alle drei Gegner ihn in die Zange zu nehmen.
Mit einigen Schlägen seiner gewaltigen Flügel gelangte er aus ihrer Reichweite und startete seinen Gegenangriff. Zwischen den Vorderklauen bildete sich eine riesige Kugel reiner, ursprünglicher Energie, die er ihnen entgegen schleuderte.
Die Kugel explodierte, als sie die Drei erreichte. Ysera und die anderen wurden zurückgeschleudert.
Deathwing schrie seinen Triumph hinaus. »Narren! Werft mir entgegen, was ihr habt, es wird nichts ändern. Ich bin die wahre Macht! Ihr seid nicht mehr als Schatten der Vergangenheit!«
»Unterschätze nie, was du von der Vergangenheit lernen kannst …«
Ein roter Schatten, von dem Deathwing geglaubt hatte, er würde ihn nie wieder in den Lüften erblicken, füllte sein Gesichtsfeld aus und überraschte ihn. »Alexstrasza … bist du gekommen, um deinen Gefährten zu rächen?«
»Um meinen Gefährten und meine Kinder zu rächen, Deathwing, denn ich weiß genau, dass allein du für alles verantwortlich bist.«
»Ich?« Der schwarze Leviathan grinste breit. »Aber ich kann die Dämonenseele dank dir und den deinen doch nicht einmal mehr berühren!«
»Aber etwas führte Orks an einen Ort, den nur Drachen kannten, und etwas erzählte ihnen von der Macht der Scheibe.«
»Spielt das eine Rolle? Deine Zeit ist abgelaufen, Alexstrasza, während meine gerade erst beginnt.«
Die rote Königin spreizte ihre Schwingen und zeigte die Krallen. Trotz der Entbehrungen ihrer Gefangenschaft wirkte sie in diesem Augenblick nicht im geringsten geschwächt. »Deine Zeit ist abgelaufen, Dunkler!«
»Dank der anderen habe ich die Leiden der Zeit, den Fluch der Albträume und die Nebel der Magier besiegt. Welche Waffen hast du zu bieten?«
Alexstrasza begegnete seinem düsteren Blick mit ruhiger Entschlossenheit. »Das Leben, die Hoffnung … und was sie mit sich bringen.«
Deathwing lauschte ihren Worten und lachte laut. »Dann bist du schon so gut wie tot!«
Die beiden Drachen stürzten sich aufeinander.
»Glaubt sie wirklich, dass sie ihn besiegen kann?«, murmelte Rhonin. »Keiner von ihnen kann das. Ihnen fehlt, was das verfluchte Artefakt ihnen entzogen hat.«
»Wenn wir nichts unternehmen können, dann sollten wir diesen Ort verlassen, Rhonin.«
»Das kann ich nicht, Vereesa. Ich muss etwas für sie tun … für uns alle. Wer außer ihnen sollte Deathwing jemals aufhalten?«
Falstad betrachtete die Dämonenseele. »Kannst du mit diesem Ding nichts ausrichten?«
»Nein, man kann es nicht gegen Deathwing einsetzen.«
Der Zwerg rieb sein bärtiges Kinn. »Schade, dass man die Magie, die dieses Ding gestohlen hat, nicht zurückgeben kann. Dann wären sie wenigstens ebenbürtig.«
Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«
Er versuchte nachzudenken. Aber mit seinem gebrochenen Finger, den hämmernden Kopfschmerzen und den Schrammen am ganzen Körper bereitete es ihm bereits Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Rhonin konzentrierte sich, dachte an das, was der Greifenreiter gerade gesagt hatte. »Aber wenn ich es recht bedenke, wäre es vielleicht doch möglich …«
Seine Gefährten blickten ihn verwirrt an. Rhonin sah sich kurz um und stellte sicher, dass ihnen im Moment keine Gefahr durch Orks drohte, dann griff er nach dem härtesten Stein, den er finden konnte.
»Was tut Ihr da?«, fragte Vereesa. Sie klang, als fürchte sie um seinen Verstand.
»Ich gebe ihnen ihre Macht zurück.« Er legte die Dämonenseele auf einen anderen Stein und hob den ersten hoch.
»Was zur Hölle willst …?« Weiter kam Falstad nicht.
Rhonin schlug den Stein mit aller Kraft gegen die Scheibe.
Der Stein zerbrach in zwei Hälften.
Die Dämonenseele glänzte unverändert, zeigte noch nicht einmal einen winzigen Kratzer als Folge des Angriffs.