Sie befand sich im untersten Stockwerk des Turms.
Der Laufsteg führte um den Innenraum herum. Treppen führten an der Innenseite des gewaltigen Turmes hinauf, und auf dem Weg nach oben gab es Absätze und weitere Türen. In der Mitte, auf dem Grund des Turmes, lauerte ein Becken mit schwarzem Wasser. Felsen durchbrachen da und dort die Wasseroberfläche, Käfer flitzten hastig darüber. Auf den Felsen hockten reglos Salamander, die die Augen verdrehten und sie beobachteten.
Hier hatte Richard gegen die Königin der Mriswiths gekämpft. Ihre stinkenden, zerplatzten Eier lagen immer noch überall auf den Felsen verteilt.
Noch immer trieben kleine Stücke der aus Kolos Raum herausgesprengten Tür auf dem Becken und bildeten Inseln, auf denen fette Käfer mit einem Zischen auf die Störung reagierten.
Auf der anderen Seite des Wassers, an der gegenüberliegenden Wand des runden Turmsaales, befand sich das Loch, durch das man in Kolos Raum gelangte.
Kahlan begab sich schnell um den Laufsteg herum zu der breiten Plattform davor. Die Türöffnung war aufgesprengt worden, wodurch geschwärzte, schartige Ränder entstanden waren. An einigen Stellen war das Gestein wie Kerzenwachs geschmolzen. Die Mauer des Turms außerhalb der Türöffnung war übersät mit schwarzen Rußstreifen jener entfesselten Energie, die Kolos Raum zum ersten Mal seit tausend Jahren geöffnet hatte.
Mit der Zerstörung der Türme der Verdammnis hatte Richard auch das magische Siegel dieses Raumes zerstört. Die Türme hatten, während des Großen Krieges vor Tausenden von Jahren errichtet, die Alte von der Neuen Welt abgeschirmt. Sie hatten auch den Raum mit der Sliph versiegelt und den Mann eingeschlossen, der das große Pech hatte, zu dieser Zeit ihr Bewacher zu sein.
Steinsplitter knirschten unter ihren Füßen, als Kahlan den Raum betrat, in dem Kolo gestorben war, jenen Raum, in dem die Sliph zu Hause war. Die Stille war bedrückend. Sie klang ihr in den Ohren, so daß ihr die eigenen Schritte zur willkommenen Abwechslung wurden.
Richard hatte die Sliph nach Tausenden von Jahren geweckt. Sie hatte Richard in die Alte Welt und Kahlan und ihn wieder zurück nach Aydindril gebracht. Nach ihrer Rückkehr hatte er die Sliph wieder schlafen gelegt.
All die Jahre über, die Kahlan in der Burg verbracht hatte, war ihr die Existenz der Sliph entgangen.
Kahlan konnte sich die Magie nicht einmal vorstellen, mit der die Zauberer aus alter Zeit ein Wesen wie die Sliph erschaffen und es all die Jahre schlafen gelegt hatten. Nur am Rand ihrer Vorstellungskraft konnte sie sich ein Bild von jener Kraft machen, die Richard eingesetzt haben mußte, doch begreifen konnte sie sie nicht.
Zu was wären die Zauberer aus alter Zeit, die ihre Gabe sehr gut kannten, mit solch unvorstellbarer Magie fähig gewesen? Welches Grauen hätte ein Krieg zwischen denen, die solche Macht besaßen, bedeutet?
Sie erschauderte schon bei dem Gedanken daran.
Es mußten Dinge sein wie diese Seuche, mit denen man sie jetzt heimgesucht hatte. Sie wären zu so etwas fähig gewesen.
Das Licht der Laterne fiel auf Kolos Gebeine neben dem Stuhl. Feder und Tintenfaß standen noch immer auf dem verstaubten Tisch. Der runde Raum, der fast sechzig Fuß im Querschnitt maß, wurde von einer hohen Kuppeldecke gekrönt, die selbst beinahe so hoch war wie der Raum breit.
In der Mitte gab es eine runde, einem Brunnen ähnelnde Steinmauer von fünfundzwanzig oder dreißig Fuß Durchmesser. Dort lebte die Sliph. Kahlan hielt das Licht über den Brunnenrand und blickte an der glatten Steinmauer des dunklen Schachtes hinunter, der scheinbar endlos in die Tiefe abzufallen schien.
Die Mauern des Raumes waren mit zackigen, verkohlten Linien überzogen, als sei dort ein Blitz außer Rand und Band geraten – eine weitere Folge eben jener Magie, die Richard heraufbeschworen hatte, als er die Türme zerstört hatte und die Tür herausgesprengt worden war. Kahlan ging schnellen Schritts um den Raum herum und sah nach, ob es irgend etwas gab, das vielleicht von Nutzen war. Außer dem Tisch, dem Stuhl und Kolo befand sich nichts in diesem Raum – nur ein verstaubter Satz von Regalen.
Zu Kahlans Enttäuschung befanden sich keine Bücher darin. Es gab drei verblichene, mit blauer Glasur überzogene Behälter mit Deckel, die vermutlich einst Wasser oder Suppe für den Zauberer enthalten hatten, der Wachdienst bei der Sliph geschoben hatte. In einer weißen, mit Glasur überzogenen Schale lag ein silberner Löffel. Auf einem der Regale lag ein sauber gefaltetes Tuch oder eine Art Spitzendeckchen. Als sie es anfaßte, zerfiel es an der Stelle, wo ihre Finger es berührten, zu Staub und kleinen Flöckchen.
Kahlan beugte sich weiter vor und sah, daß auf dem untersten Regal nur einige Kerzen und eine Laterne lagen.
Dann, plötzlich, überfiel sie das eiskalte Gefühl alarmierender Unruhe.
Sie wurde beobachtet.
Sie erstarrte, hielt den Atem an und redete sich ein, es sei bloß ihre Phantasie. Die feinen Härchen in ihrem Nacken richteten sich auf. Sie spürte, wie ihr eine kalte Gänsehaut wie eine Welle die Arme hochlief.
Angespannt lauschte sie auf verräterische Geräusche. Die Zehen krallten sich in ihre Stiefel. Sie hatte Angst, sich zu bewegen. Vorsichtig und leise gestattete sie ihren Lungen schließlich einen Atemzug.
Langsam, ganz langsam, um kein Geräusch zu machen, richtete sie sich ein Stück weit auf. Sie wagte nicht, die Füße zu bewegen, falls die Steinsplitter knirschten.
Ein Gefühl von Kühnheit, zerbrechlich wie eine Eierschale, drängte sie, sich hinter der Mauer des Brunnens der Sliph zu verstecken. Von dort aus ließe sich feststellen, ob ihr nur die Einbildung einen Streich spielte. Vielleicht war es eine Ratte.
Sie drehte sich, um die Entfernung bis zur Mauer abzuschätzen.
Kahlan unterdrückte einen Schrei und wich zurück.
36
Das quecksilbrige Gesicht der Sliph hatte sich über den Rand der steinernen Ummauerung geschoben und betrachtete sie.
Die glänzend metallischen, weiblichen Züge des Wesens reflektierten den Schein der Laterne und den Raum wie ein lebendiger Spiegel. Es war offenkundig, warum Kolo die Sliph als weiblich bezeichnet hatte. Sie stellte eine Statue aus Silber dar. Nur daß sie sich mit fließender Eleganz bewegte.
Kahlan preßte sich eine Hand auf ihr klopfendes Herz und rang keuchend nach Atem. Die Sliph blickte sie an, als warte sie neugierig auf Kahlans nächsten Schritt. Kolo hatte in seinem Tagebuch oft davon gesprochen, daß ›sie‹ ihn beobachte.
»Sliph…«, stammelte Kahlan. »Wie kommt es, daß du wach bist?«
Das Gesicht verzog sich zu einer fragenden Maske. »Möchtest du reisen?« Ihre unheimliche Stimme hallte im Raum wider. Ihre Lippen hatten sich beim Sprechen nicht bewegt, aber sie lächelte freundlich.
»Reisen? Nein.« Kahlan trat einen Schritt auf den Brunnen zu. »Richard hat dich schlafen gelegt, Sliph. Ich war dabei.«
»Mein Meister. Er hat mich geweckt.«
»Richtig, Richard hat dich geweckt. Er ist in dir gereist. Er hat mich gerettet, und ich bin zusammen mit ihm zurückgereist … in dir.«
Kahlan erinnerte sich mit einer gewissen Zärtlichkeit an das seltsame Erlebnis. Um in der Sliph reisen zu können, mußte man sie einatmen. Anfangs war das furchteinflößend, aber da Richard bei ihr gewesen war, hatte Kahlan sich überwinden können und das bezaubernde Gefühl dieses ›Reisens‹ für sich entdeckt.
Die Sliph einzuatmen war ein Gefühl reiner Verzückung.
»Ich erinnere mich«, sagte die Sliph. »Du warst einmal in mir, ich erinnere mich.«
»Aber erinnerst du dich nicht mehr, wie Richard dich wieder schlafen legte?«
»Er hat mich aus dem Schlaf der Zeiten geweckt, mich aber nicht wieder in den langen Schlaf zurückgeschickt. Er hat mich ruhen lassen, bis ich wieder gebraucht werde.«
»Aber wir dachten – wir dachten, du wärst wieder eingeschlafen. Warum … ruhst du jetzt nicht?«
»Ich spüre deine Nähe. Ich kam, um nachzusehen.«
Kahlan trat an die Mauer heran. »Sliph, ist seit Richard und mir jemand in dir gereist?«