»Du wirst Richard doch nicht verraten, wohin du mich gebracht hast, oder? Ich möchte nicht, daß er es erfährt.«
Das silberne Gesicht verzog sich zu einem schlauen Lächeln. »Keiner, der mich kennt, will, daß andere etwas erfahren. Ich verrate nichts. Sei unbesorgt, niemand wird wissen, was wir zusammen tun. Niemand wird von deinem Vergnügen Kenntnis erhalten.«
Kahlans Gesicht nahm einen verwirrten Ausdruck an. Der flüssige Silberarm legte sich um sie. Der warme, wellenartige Griff hielt sie umklammert.
»Vergiß nicht: du mußt mich atmen«, erklärte die Sliph. »Hab keine Angst. Ich werde dich am Leben erhalten, wenn du mich atmest. Sobald wir das Ziel erreichen, mußt du mich ausatmen und die Luft einatmen. Davor wirst du ebensoviel Angst haben wie davor, mich einzuatmen, aber du mußt es tun, sonst stirbst du.«
Kahlan nickte und holte tief Luft, während sie von einem Bein aufs andere trat. »Ich erinnere mich.« Sie konnte nicht anders, der Gedanke, ohne Atem zu sein, machte ihr angst. »Also gut, ich bin bereit.«
Ohne ein weiteres Wort hob der silberne Arm sie sachte von der Mauer und stürzte mit ihr hinab in die quecksilbrige Gischt.
Kahlans Lungen brannten. Sie hatte die Augen fest geschlossen. Zwar hatte sie es schon einmal getan und wußte, ihr blieb keine andere Wahl, trotzdem erfüllte sie entsetzliche Angst, dieses flüssige Silber in sich einzusaugen. Beim letzten Mal hatte Richard sie begleitet. Diesmal war sie alleine, und Panik überkam sie.
Sie mußte an Shota denken, die Nadine geschickt hatte, damit sie Richard heiratete.
Kahlan ließ die Luft aus ihren Lungen entweichen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und sog die seidige Substanz der Sliph in sich hinein.
Es gab weder heiß noch kalt. Sie öffnete die Augen und erblickte Hell und Dunkel in einer einzigen, geisterhaften Vision. Sie spürte Bewegung in dieser schwerelosen Leere, gleichzeitig schnell und langsam, wie ein Stürzen und ein Treiben. Ihre Lungen füllten sich mit der süßen Gegenwart der Sliph. Es war, als nähme sie die Sliph in ihrer Seele auf. Zeit war bedeutungslos.
Es war die pure Wonne.
38
Inmitten des warmen Farbenwirbels hörte Zedd, wie Ann seinen Namen rief. Ihr Einwand schien von ganz weit her zu kommen, dabei stand sie nur ein kurzes Stück entfernt. Im Fluß der Kraft auf seinem Zaubererfelsen hätte er ebensogut einer anderen Welt entstammen können.
In mancherlei Hinsicht war es auch so.
Ihre Stimme ertönte erneut, störend, beharrlich, drängend. Zedd ignorierte sie so gut wie völlig, während er seinen Arm in das rauchige Licht hob. Die Gestalten vor ihm deuteten behutsam darauf hin, daß ihre Daseinsform die von Seelen war. Er war fast fertig.
Plötzlich begann die Wand aus Kraft in sich zusammenzusinken. Die Ärmel seines Gewandes rutschten herab, während Zedd seine gekrümmten Hände höher in den Himmel reckte und mit aller Gewalt versuchte, mehr Macht in das Feld aus Magie zu zwingen, es zu stabilisieren. Wie von Sinnen zog er einen Eimer aus dem Brunnen hoch, nur um festzustellen, daß er leer war.
Farbige Funken knisterten. Der kreisende Lichtwirbel bildete sich zurück zu einem trüben bunten Glänzen. Mit wachsender Geschwindigkeit fiel er, kraftlos erlahmend, in sich zusammen.
Zedd war sprachlos.
Mit einem dumpfen Schlag, der den Erdboden erzittern ließ, erlosch die gesamte mühevoll erzeugte Verwerfung in der Welt des Seins.
Zedds Arme kreisten wie Windmühlen, als Ann seinen Kragen packte und ihn vom Zaubererfelsen herunterzog. Rückwärts torkelnd warf er sie beide zu Boden.
Seiner beseelenden Magie beraubt, fiel auch der Fels in sich zusammen. Zedd hatte nichts dazu beigetragen. Sein Zaubererfelsen war aus eigenen Stücken in seinen leblosen Zustand zurückgekehrt. Jetzt war er endgültig verwirrt.
»Verdammt, Frau! Was hat das zu bedeuten!«
»Wage nicht, mich anzufluchen, widerborstiger alter Mann. Ich weiß nicht, wieso ich mir überhaupt die Mühe mache, deine alte, faltige Haut zu retten.«
»Wieso hast du dich eingemischt? Ich war fast fertig!«
»Ich habe mich nicht eingemischt«, knurrte sie.
»Aber wenn du es nicht warst« – Zedd warf einen verstohlenen Blick hinüber zu den dunklen Hügeln. »Soll das etwa heißen …?«
»Plötzlich hatte ich die Verbindung zu meinem Han verloren. Ich wollte dich warnen, nicht stören.«
»Oh«, meinte Zedd kleinlaut. »Das ist etwas völlig anderes.« Er hob seinen Zaubererfelsen vom Boden auf. »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Er ließ den Felsen in eine Innentasche gleiten.
Ann suchte die Dunkelheit ab. »Konntest du irgend etwas herausfinden, bevor du die Verbindung verloren hast?«
»Ich hatte die Verbindung noch gar nicht aufgenommen.«
Sie sah ihn an. »Du hattest … was soll das heißen, du hattest die Verbindung noch gar nicht aufgenommen? Was hast du denn die ganze Zeit gemacht?«
»Ich habe es versucht«, sagte er und griff nach der Decke. »Irgend etwas war nicht so, wie es sein sollte. Ich konnte nicht hindurchgreifen. Hol deine Sachen. Wir sollten von hier verschwinden.«
Ann nahm eine Satteltasche vom Boden auf und ging daran, ihre Sachen hineinzustopfen. »Zedd«, meinte sie besorgt, »wir hatten uns darauf verlassen. Jetzt, wo du versagt hast –«
»Ich habe nicht versagt«, fauchte er zurück. »Auf keinen Fall war es mein Fehler, daß es nicht funktioniert hat.«
Sie schlug seine Hände fort, als er sie zu ihrem Pferd bugsieren wollte. »Wieso hat es nicht funktioniert?«
»Wegen der roten Monde.«
Sie drehte sich um und starrte ihn an. »Du meinst…«
»Ich mache das nicht oft, und schon gar nicht leichtfertig. In meinem ganzen Leben habe ich nur einige wenige Male Verbindung mit der Welt der Seelen aufgenommen. Als mein Vater mir den Felsen schenkte, warnte er mich, man dürfe ihn nur im äußersten Notfall benutzen. Während einer solchen Kontaktaufnahme besteht die Gefahr, die falschen Seelen durchzulassen, oder schlimmer, den Schleier zu zerreißen. Wenn ich früher Schwierigkeiten hatte, die Verbindung herzustellen, lag das an einer solchen Nichtübereinstimmung. Die roten Monde stellen so etwas wie eine Warnung vor einer Nichtübereinstimmung dar.«
»Bald werden wir gar nichts mehr versuchen können.« Sie befreite ihren Arm mit einem Ruck aus seinem Griff. »Was ist in dich gefahren?«
Zedd brummte. »Was hast du damit gemeint, du könntest dein Han nicht berühren?«
Ann strich über die Flanke ihres Pferdes und gab ihm damit zu verstehen, daß sie gleich neben seinem Hinterteil stand. Das Pferd scharrte mit einem Vorderhuf und wieherte.
»Während du auf dem Felsen standest, habe ich Spürnetze ausgeworfen, um zu überprüfen, ob jemand in der Nähe ist. Schließlich befinden wir uns in der Wildnis, und du hast mit all dem Licht einen ziemlichen Wirbel veranstaltet. Dann wollte ich mein Han berühren, aber plötzlich war mir, als fiele ich auf mein Gesicht.«
Zedd ließ seine Hand vorschnellen und warf ein einfaches Netz aus, um einen faustgroßen Stein umzudrehen, der vor seinen Füßen lag. Nichts geschah. Der Versuch glich dem Gefühl, sich anzulehnen, nur um zu spät festzustellen, daß dort nichts Halt bot. Als falle man auf die Nase.
Zedd entnahm einer seiner Innentaschen eine Prise Tarnpulver. Er schleuderte es in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Der leichte Wind wehte es davon. Es glitzerte nicht.
»Wir stecken in ernsthaften Schwierigkeiten«, flüsterte er.
Sie drängte sich an ihn. »Würde es dir etwas ausmachen, dich ein wenig klarer auszudrücken?«
»Laß die Pferde stehen.« Er ergriff abermals ihren Arm. »Komm.«
Diesmal protestierte sie nicht, und so führte er sie im Laufschritt davon. »Was ist denn, Zedd?« fragte sie leise.
»Wir befinden uns in der Wildnis.« Er blieb stehen, reckte die Nase in die Luft und schnupperte. »Ich tippe auf Nangtong.« Er deutete im schwachen Mondlicht nach vorne. »Dort unten, in der Schlucht. Wir dürfen um nichts in der Welt gesehen werden. Vielleicht müssen wir uns trennen und in verschiedene Richtungen fliehen.«