Zedd hielt ihren Arm und stützte sie, als sie auf dem taufeuchten Gras und dem nassen Schlamm der steilen Böschung ausrutschte.
»Wer sind die Nangtong?«
Zedd war zuerst unten. Er legte ihr die Hände auf die breiten Hüften und half ihr herunter. Ihre Beine waren kurz, und sie hatte nicht die gleiche Schrittlänge wie er. Da er keine Magie zur Hilfe nahm, hätte ihr Gewicht ihn fast umgeworfen. Mit einer Hand bekam sie das ineinander verschlungene Geflecht eines Klettenstrauchs zu fassen und fand wieder Halt.
»Die Nangtong«, erklärte Zedd leise, »sind ein Stamm aus der Wildnis. Sie haben ihre ganz eigene Magie. Genaugenommen können sie im Gegensatz zu uns mit ihrer Magie nichts Bestimmtes bewirken, statt dessen rauben sie damit der Magie anderer einfach deren Kraft. Etwa vergleichbar dem Regen, der auf ein Lagerfeuer fällt.
Das ist das Problem mit der Wildnis. Dort lebt eine Reihe von Stämmen, die dafür sorgen können, daß die seltsamsten Dinge schiefgehen, wenn man seine Magie einsetzt. Darüber hinaus existieren hier Geschöpfe und Orte, die auf ganz unerwartete Weise Schwierigkeiten bereiten. Am besten macht man einen großen Bogen um die Wildnis.
Deshalb beunruhigte es mich so, als Verna uns erklärte – nachdem Nathan gemeint hatte, wir müßten den Schatz der Jocopo suchen –, diese hätten damals in der Wildnis gelebt. Ebensogut hätte Nathan von uns verlangen können, in ein lichterloh brennendes Feuer zu greifen und eine glühende Kohle herauszuholen. In der Wildnis lauern überall Gefahren: die Nangtong sind nur eine davon.«
»Und wie kommst du darauf, die Nangtong seien der Stamm, der die Schwierigkeiten mit unserer Magie verursacht?«
»Bei den meisten Stämmen aus der Wildnis, die diese Fähigkeit haben, entziehen sie der Magie die Kraft. Mein Tarnstaub hätte jedoch trotzdem funktioniert. Aber das ist nicht der Fall. Ich kenne außer den Nangtong niemanden, der dazu imstande wäre.«
Ann breitete die Arme aus, um ihr Gleichgewicht zu halten und nicht auszurutschen, während sie hinter ihm über einen umgestürzten Baumstamm kletterte. Der Mond verschwand hinter Wolken. Zedd freute sich, daß es wieder dunkel wurde, denn dadurch konnte man leichter ungesehen bleiben, auch wenn man nicht sah, wohin man trat. Allerdings wären sie in beiden Fällen tot, ob sie nun stürzten und sich das Genick brachen oder von vergifteten Pfeilen oder Speerspitzen durchbohrt wurden.
»Vielleicht können wir ihnen irgendwie zu verstehen geben, daß wir nichts Böses im Schilde führen«, schlug Ann leise von hinten vor. Sie schnappte nach seinem Gewand, um ihm in der Dunkelheit folgen zu können, während er hastig über die flache Uferböschung kletterte. »Ständig prahlst du und verlangst, ich solle dir das Reden überlassen, man möchte meinen, du hättest eine magische, honigsüße Zunge, wenn man dich so reden hört. Wieso erklärst du diesen Nangtong nicht einfach, wir seien auf der Suche nach den Jocopo und wüßten ihre Hilfe sehr zu schätzen? Viele Menschen, die im ersten Moment schwierig wirken, erweisen sich als ganz vernünftig, sobald man mit ihnen spricht.«
Er drehte seinen Kopf nach hinten, damit er seine Stimme gesenkt halten und sie ihn trotzdem verstehen konnte.
»Schon richtig, bloß spreche ich ihre Sprache nicht, daher kann ich sie schlecht für uns gewinnen.«
»Wenn diese Leute so gefährlich sind und du das wußtest, wieso warst du dann so töricht, uns mitten unter sie zu führen?«
»Hab ich nicht. Ich habe einen weiten Bogen um ihr Gebiet geschlagen.«
»Das sagst du. Es hat ganz den Anschein, als hättest du uns in die Irre geführt.«
»Nein, die Nangtong sind Halbnomaden. Sie haben kein fest umrissenes Stammland, bleiben aber in ihren Heimatgebieten. Und die habe ich umgangen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Jagdgesellschaft für die Seelen.«
»Eine was?«
Zedd blieb stehen, ging tief in die Hocke und betrachtete das Gelände. Im schwachen Licht war niemand zu erkennen, und nur vage konnte er den schwachen Geruch von fremdem Schweiß ausmachen. Gut möglich, daß der Wind ihn über Meilen herangetragen hatte.
»Eine Jagdgesellschaft für die Seelen«, wiederholte er, seinen Mund ganz dicht an ihr Ohr bringend. »Das ist eine lange Geschichte, aber es läuft darauf hinaus, daß sie der Welt der Seelen Opfer darbringen.
Sie glauben, eine frisch von ihnen gegangene Seele gibt ihre Ehrerbietung und ihre Bitten an die Ahnenseelen weiter und stimmt sie auf diese Weise günstig. Diese Jagdgesellschaften jagen Lebewesen, die man opfern kann.«
»Auch Menschen?«
»Das passiert gelegentlich. Vorausgesetzt, sie kommen damit ungeschoren davon. Sobald sie auf Widerstand stoßen, sind sie nicht gerade tapfer – sie laufen lieber weg, als sich zu schlagen – aber Schwache oder Wehrlose greifen sie sich gerne.«
»Im Namen der Schöpfung, was sind diese Midlands bloß für ein Ort, wo man Menschen so etwas durchgehen läßt? Ich habe euch für zivilisierter gehalten. Ich dachte, ihr hättet diesen Bund, der dafür sorgt, daß alle in den Midlands um das Gemeinwohl bemüht sind.«
»Die Konfessoren kommen hierher und versuchen dafür zu sorgen, daß die Nangtong keine Menschen töten, leider ist die Gegend etwas abgelegen. Sobald ein Konfessor erscheint, geben sich die Nangtong unterwürfig. Seine Magie gehört zu den wenigen, auf die die Kraft der Nangtong keinen Einfluß hat. Gut möglich, daß die Kraft eines Konfessors sich deswegen nicht beeinflussen läßt, weil sie ein Element des Subtraktiven enthält.«
»Warum laßt ihr Narren diesen Leuten ihren Willen, wenn ihr wißt, zu was sie fähig sind?«
Zedd sah sie im Dunkeln verärgert an. »Der Bund der Midlands wurde teilweise deswegen gegründet, weil man Menschen mit Magie, die von mächtigeren Ländern überrannt wurden, schützen wollte.«
»Sie besitzen keine Magie. Du hast selbst gesagt, sie können mit ihrer Magie nichts bewirken.«
»Sie heben Magie auf und nehmen ihr die Kraft. Demnach besitzen sie Magie. Menschen ohne Magie wären dazu nicht fähig. Das ist die Art dieser Menschen, sich zu verteidigen. Gewissermaßen sind das die Zähne, mit denen sie sich gegen die Besitzer mächtiger Magie wehren, die sie unterjochen oder ausrotten wollen.
Wir lassen den Menschen und Geschöpfen mit Magie ihren Frieden. Sie haben alle die gleiche Daseinsberechtigung wie wir. Wir versuchen jedoch dafür zu sorgen, daß sie keine Unschuldigen töten. Möglicherweise sind uns nicht alle Formen der Magie recht, aber wir halten nicht viel davon, Geschöpfe des Schöpfers auszumerzen, nur um eine Welt nach den Ideen dessen zu erschaffen, der die meiste Macht besitzt.«
Sie schwieg, also fuhr er fort. »Es gibt Geschöpfe, die gefährlich werden können, wie zum Beispiel der Gar, trotzdem ziehen wir nicht los und töten alle Gars. Statt dessen lassen wir sie in Frieden, lassen ihnen ihr eigenes Leben, wie vom Schöpfer beabsichtigt. Es steht uns nicht zu, die Weisheit der Schöpfung in Frage zu stellen.
Die Nangtong reagieren sehr zurückhaltend, sobald sie auf Widerstand stoßen, wenn sie jedoch glauben, die Oberhand behalten zu können, werden sie zur tödlichen Gefahr. Sie sind so etwas wie Aasfresser – wie Geier, Wölfe oder Bären. Diese Geschöpfe auszumerzen wäre nicht gerecht. Sie haben ihren Platz in der Welt.«
Sie brachte ihr Gesicht ganz nahe an seines heran, um ihrer Ungehaltenheit Ausdruck verleihen zu können, ohne loszubrüllen. »Und welche Rolle spielen die Nangtong?«
»Ich bin nicht der Schöpfer, Ann. Ich diskutiere auch nicht mit ihm über seine Entscheidungen bei der Schöpfung von Lebensformen und Magie. Dennoch besitze ich genügend Ehrfurcht, um einzuräumen, daß er vielleicht einen Grund hatte und es mir nicht zusteht, darüber zu urteilen, ob er sich geirrt hat oder nicht. Das wäre äußerst anmaßend.
In den Midlands gestehen wir allen Lebensformen ihre Daseinsberechtigung zu, und wenn sie gefährlich sind, halten wir uns einfach von ihnen fern. Ausgerechnet du mit deinen dogmatischen Lehren über deine Version des Schöpfers solltest in der Lage sein, dich mit dieser Sichtweise anzufreunden.«