Schweigend gingen sie die Straße entlang. Kahlan gab sich alle Mühe, sich von dem lauen Frühlingsmorgen ein wenig aufmuntern zu lassen. In Aydindril war es noch immer kalt. Bei ihrer Abreise hatte es geschneit. Trotzdem hatte sie keine rechte Freude an diesem schönen Tag.
Als sie die steinernen Stufen hinaufstiegen, die man in die Felswand geschlagen hatte, versuchte Kahlan, sich wieder auf ihre Ziele zu besinnen. Wenn es Ihr und Richard irgendwie gelänge, all diese Menschen vor der Pest zu bewahren, dann wäre das etwas Wundervolles. Den meisten Menschen wäre das Opfer, das sie dafür brachten, gleichgültig, aber das würde die Erleichterung nicht mindern, die sie beim Hören eines Kinderlachens empfände oder beim Anblick der Freude einer Mutter, deren Kind gerettet war.
Es gab noch andere Dinge, für die es sich zu leben lohnte. Die Leere konnte sie mit dem Glück füllen, das sie in den Augen ihres Volkes sähe. Sie hätte etwas getan, das niemand sonst zu vollbringen vermochte. Sie und Richard hätten Jagang daran gehindert, all diese Menschen ins Unheil zu stürzen.
Kurz vor dem oberen Rand der Felswand legte Kahlan an einer Biegung der Treppe eine Pause ein und sah hinunter nach Agaden. Es war wirklich ein herrliches Fleckchen Erde, dieses Tal, das sich zwischen die Gipfel schroffer Gebirgszüge schmiegte.
Sie mußte daran denken, wie der Hüter einen Zauberer und einen Screeling geschickt hatte, die Shota hatten töten sollen. Die Hexe war dem Anschlag mit knapper Not entkommen. Damals hatte sie geschworen, ihr Zuhause zurückzuerobern.
»Ich bin froh, daß Ihr Euer Heim zurückbekommen habt. Ich freue mich für Euch, Shota. Wirklich. Agaden gehört Euch.«
»Danke, Mutter Konfessor.«
Kahlan blickte in die Mandelaugen der Hexe. »Was habt ihr mit dem Zauberer gemacht, der Euch aufgespürt hat?«
»Was ich versprochen hatte. Ich habe ihn an den Daumen aufgehängt, bei lebendigem Leib gehäutet und in aller Ruhe zugesehen, wie seine Magie aus seinem gehäuteten Körper wich.« Sie drehte sich um und deutete mit einer Handbewegung hinunter in das grüne Tal. »Mit seiner Haut habe ich den Sitz meines Throns bezogen.«
Kahlan erinnerte sich, daß Shota genau das geschworen hatte. Es konnte kaum verwundern, daß selbst Zauberer sich nur selten nach Agaden wagten. Shota war ihnen mehr als ebenbürtig. Wenigstens ein Zauberer hatte diese Lektion zu spät gelernt.
»Ich kann Euch keinen Vorwurf machen – schließlich hatte der Hüter ihn geschickt, um Euch zu töten. Hätte er Euch in die Finger bekommen, nun, ich weiß, wie sehr Ihr Euch davor gefürchtet habt.«
»Ich bin Richard und Euch etwas schuldig. Der Sucher hat verhindert, daß wir alle in die Hände des Hüters fallen.«
»Glücklicherweise hat dieser Zauberer Euch nicht zum Hüter gejagt.«
Das war durchaus ernst gemeint. Kahlan war sich nach wie vor im klaren darüber, wie gefährlich Shota war, andererseits schien die Hexe eines Mitgefühls fähig zu sein, das Kahlan nicht erwartet hatte.
»Wißt Ihr, was dieser Zauberer zu mir sagte?« fragte Shota. »Er meinte, er habe mir verziehen. Könnt Ihr Euch das vorstellen? Er gewährte mir Vergebung. Und dann bat er mich selbst darum.«
Der Wind wehte Kahlan einige Haare ins Gesicht. Sie strich sie wieder nach hinten. »Eine seltsame Bemerkung, wenn man es recht bedenkt.«
»Das Vierte Gesetz der Magie, wie er es nannte. Er behauptete, dem Vierten Gesetz zufolge hätte Vergeben etwas Magisches. Eine Magie, die eine heilende Wirkung hat. Das gilt sowohl für die Vergebung, die man selbst gewährt, als auch für die, die man gewährt erhält.«
»Ein Günstling des Hüters würde vermutlich alles mögliche behaupten, um mit seinem Verbrechen ungeschoren davonzukommen und vor Euch fliehen zu können. Ich kann verstehen, daß Ihr nicht in der Stimmung wart, ihm zu vergeben.«
Das Licht schien in der alterslosen Tiefe von Shotas Augen zu versinken. »Er hat vergessen, das Wörtchen ›aufrichtig‹ vor ›Vergebung‹ zu setzen.«
42
Kahlan sah zu, wie die Hexe wieder im düsteren Wald verschwand. Schlingpflanzen, die von knorrigen Ästen herabhingen, reckten sich, um ihre Herrin im Vorübergehen zu berühren, während Ranken und Wurzeln sich streckten, um sie am Bein zu streifen. Sie verschwand hinter einem Nebelschleier. Unsichtbare Wesen riefen mit leisen Pfeif- und Schnalzlauten aus der Richtung, in die sie gegangen war.
Kahlan wandte sich zu dem moosüberwucherten Findling um, den Shota ihr gezeigt hatte, und fand gleich dahinter den Brunnen der Sliph. Das silbrige Gesicht kam hinter dem runden Steinmäuerchen hervor und beobachtete, wie Kahlan sich näherte. Fast wünschte Kahlan, die Sliph wäre nicht erschienen; als würden die Dinge, die sie in Erfahrung gebracht hatte, ungeschehen bleiben, wenn sie nicht zurückkehrte.
Wie sollte sie Richard in die Augen sehen, ohne ihre Seelenqualen herauszuschreien? Wie sollte sie mit diesem Wissen weiterleben können? Woher sollte sie ihren Lebenswillen nehmen?
»Möchtest du reisen?« fragte die Sliph.
»Nein, aber ich muß.«
Die Sliph legte die Stirn in Falten, als sei sie verwirrt. »Wenn du reisen willst, bin ich bereit.«
Kahlan ließ sich auf die Erde sinken, lehnte sich mit dem Rücken an den Brunnen der Sliph und zog die Beine unter ihren Körper. Sollte sie wirklich so leicht aufgeben? Sollte sie sich einfach demütig und bescheiden in ihr Schicksal fügen? Sie hatte keine andere Wahl.
Denk an die Lösung, nicht an das Problem.
Irgendwie erschienen ihr die Dinge nicht mehr ganz so hoffnungslos wie eben, noch unten in Agaden. Es mußte sich doch eine Möglichkeit finden lassen. Richard würde nicht so leicht aufgeben. Er würde um sie kämpfen. Sie nahm sich vor, auch um ihn zu kämpfen. Sie liebten sich, und das war das Allerwichtigste.
Kahlan fühlte sich, als sei ihr Verstand umnebelt. Sie versuchte entschlossen, sich zu konzentrieren. Unmöglich durfte sie einfach aufgeben. Sie mußte sich diesem Problem mit ihrer alten Resolutheit stellen.
Daß Hexen Menschen verhexten, wußte sie. Nicht unbedingt aus Bosheit, es war einfach ihre Art. Etwa so, wie ein Mensch nichts dafür konnte, ob er groß war oder klein, oder für die Farbe seiner Haare. Hexen verhexten Menschen, denn so funktionierte ihre Magie.
Shota hatte Richard sozusagen verhext. Beim ersten Mal hatte ihn nur die Magie des Schwertes der Wahrheit davor bewahrt.
Das Schwert der Wahrheit.
Richard war der Sucher. Genau das taten Sucher schließlich: Sie lösten Probleme. Sie liebte den Sucher. Er würde nicht einfach aufgeben.
Kahlan pflückte ein Blatt ab und zerriß es in kleine Streifen, während sie sich alles, was ihr Shota erzählte hatte, abermals durch den Kopf gehen ließ. Was durfte sie glauben? Das alles kam ihr inzwischen vor wie ein Traum, aus dem sie im Begriff stand zu erwachen. Die Dinge konnten einfach nicht so hoffnungslos stehen, wie sie geglaubt hatte. Ihr Vater hatte ihr beigebracht, niemals aufzugeben, mit jedem Atemzug zu kämpfen, bis zum letzten, wenn es sein mußte. Und auch Richard würde nicht so ohne weiteres eine Niederlage eingestehen. Noch längst war es nicht vorbei. Die Zukunft war weiterhin die Zukunft, und was Shota auch gesagt hatte, bislang war gar nichts entschieden.
Irgend etwas an ihrer Schulter störte sie. Während sie ihren Gedanken nachhing, schlug sie kurz mit der Hand danach, dann begann sie wieder, Streifen von dem großen Blatt abzureißen. Es mußte einen Weg geben, wie sich das Problem lösen ließe.
Als sie sich zum zweiten Mal auf die Schulter schlug, berührten ihre Finger das Knochenmesser. Es fühlte sich warm an.
Kahlan zog das Messer heraus und hielt es in ihrem Schoß. Es war warm, schien zu pulsieren und zu vibrieren, ja, wurde so heiß, daß es unangenehm wurde, es in der Hand zu halten.
Staunend verfolgte Kahlan, wie die schwarzen Federn sich aufrichteten. Sie tanzten und flatterten und drehten sich wie in leichtem Wind. Ihr Haar hing schlaff herab. Die Luft stand vollkommen still. Kein Lüftchen wehte.
Kahlan sprang auf.
»Sliph!«