Der Schlammensch erwiderte das Lächeln. Es war ein wunderbarer Anblick, selbst unter den gegebenen Umständen.
»Ja, ich erinnere mich genau, wie stark du bist, Mutter Konfessor. Wir werden also rennen.«
Im Mondlicht waren die gespenstischen, kastenförmigen Umrisse des Dorfes der Schlammenschen nur schemenhaft zu erkennen, das verborgen in der dunklen, grasbewachsenen Ebene lag. In den kleinen Fenstern brannten kaum Lichter. Zu dieser späten Stunde waren nicht viele Menschen unterwegs, und Kahlan war froh darüber. Sie wollte sich die Gesichter dieser Menschen, die Angst und den Kummer in ihren Augen, ersparen. Viele von ihnen würden sterben.
Chandalen brachte sie auf dem kürzesten Weg zum Haus der Seelen am Nordende des Dorfes. Die meisten der Gebäude standen dicht beieinander, das Haus der Seelen aber stand ein wenig abseits. Das Mondlicht spiegelte sich auf dem Schindeldach, bei dessen Herstellung Richard geholfen hatte. Wachposten, Chandalens Jäger, hatten das fensterlose Gebäude umstellt.
Draußen vor der Tür, auf einer niedrigen Bank, hockte die väterliche Gestalt des Vogelmannes. Sein silbergraues Haar hing ihm über die Schultern und schimmerte im Mondlicht. Er war nackt. Schwarzer und weißer Schlamm bedeckte seinen Körper und sein Gesicht in einem Durcheinander aus Kreisen und Linien: eine Maske, die alle Teilnehmer der Versammlung trugen, damit die Seelen sie erkennen konnten.
Zwei Töpfe, einer mit weißem und der andere mit schwarzem Schlamm, standen zu Füßen des Vogelmannes auf dem Boden. Anhand des glasigen Blicks in seinen Augen wußte sie, daß er sich in Trance befand und daß Worte ihr nichts nützen würden. Ihr war klar, was sie zu tun hatte.
Sie löste die Schnalle ihres Gürtels. »Chandalen, würde es dir etwas ausmachen, dich umzudrehen, bitte? Und bitte deine Männer, dasselbe zu tun.« Größere Zugeständnisse an ihre Sittsamkeit ließen die Umstände nicht zu.
Chandalen erteilte seinen Männern den Befehl in seiner eigenen Sprache.
»Meine Männer und ich werden das Haus der Seelen bewachen, solange du mit den Ältesten drinnen bist«, erklärte Chandalen ihr über die Schulter hinweg.
Nachdem sie alle ihre Kleider abgestreift hatte und schließlich nackt in der kühlen Nachtluft stand, begann der Vogelmann schweigend, den klebrigen Schlamm aufzutragen, damit die Seelen auch sie erkennen konnten. Schläfrige Hennen hockten auf einer nahen, niedrigen Mauer und verfolgten das Geschehen. In der Mauer war immer noch die Kerbe von Richards Schwert zu sehen.
Sie wußte, ihr blieb keine andere Wahclass="underline" Sie mußte hineingehen und mit den Seelen sprechen, aber versessen war sie nicht darauf. Mit den Seelen sprach man nur in Zeiten allergrößter Not, und wenn das Ergebnis auch gelegentlich die gewünschten Antworten enthielt, so bereitete es doch niemals Freude.
Als der Vogelmann fertig war und Kahlan mit schwarzem und weißem Schlamm bedeckt hatte, führte er sie schweigend hinein. Die sechs Ältesten hockten im Kreis um die in der Mitte angeordneten Schädel ihrer Ahnen. Der Vogelmann nahm seinen Platz ein und setzte sich mit übereinander geschlagenen Beinen auf die Erde. Kahlan ließ sich ihm gegenüber nieder, rechts von ihrem Freund Savidlin. Sie sprach ihn nicht an. Auch er befand sich in Trance und sah die Seelen in der Kreismitte.
Hinter ihr stand ein geflochtener Korb. Wissend, weshalb er dort stand, zog sie ihn zu sich und griff hinein. Zögernd schloß sie ihre Hand um einen zappelnden roten Seelenfrosch und preßte dessen Rücken zwischen ihre Brüste – die einzige Stelle, wo sie nicht bemalt war.
Der Schleim des Frosches kribbelte auf ihrer Haut. Sie ließ den Seelenfrosch los und faßte die Ältesten zu beiden Seiten an den Händen. Nicht lange dauerte es, bis sie spürte, wie sie scheinbar taumelnd in einen Dämmerzustand hinüberglitt.
Der Raum begann schwindelerregend zu kreisen. Sie wurde aus der Welt, die sie kannte, fortgetragen und in einen sich drehenden Strudel aus Licht und Schatten, Gerüchen und Klängen gesogen. Die Schädel drehten sich mit ihr.
Die Zeit verzerrte sich, ganz so wie in der Sliph, wenn auch nicht auf eine solch beruhigende Weise. Das Erlebnis hatte etwas Verstörendes, das ihr den Schweiß auf die Stirn trieb.
Und es bewirkte, daß die Seele in Erscheinung trat.
Ihre leuchtende Gestalt stand plötzlich vor ihr, und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie erschienen war. Sie war einfach da.
»Großvater«, sagte sie leise in der Sprache der Schlammenschen.
Chandalen hatte davon gesprochen, es sei sein Großvater, der bei der Versammlung erschienen war, für sie dagegen bedeutete er noch weitaus mehr: Er war ihr Beschützer geworden. Sie spürte die Verbindung mit dem Knochen, der im Leben ihm gehört hatte.
»Kind.« Der unwirkliche Klang seiner Stimme, die durch den Vogelmann übermittelt wurde, kribbelte auf ihrer Haut. »Danke, daß du meinem Ruf gefolgt bist.«
»Was wünscht die Seele unseres Ahnen von mir?«
Der Mund des Vogelmannes bewegte sich zu der Stimme der Seele. »Das, von dem uns ein Teil anvertraut wurde, ist geschändet worden.«
»Euch anvertraut? Was hat man euch anvertraut?«
»Den Tempel der Winde.«
Kahlans nackter Körper überzog sich mit einer kribbelnden Gänsehaut.
Den Seelen anvertraut? Die Bedeutung dessen erzeugte in ihrem Kopf ein Schwindelgefühl. Die Welt der Seelen, das war die Unterwelt, die Welt der Toten. Wie konnte ein Tempel, der größtenteils aus leblosem Material wie Steinen bestand, in die Unterwelt geschickt werden?
»Der Tempel der Winde befindet sich in der Unterwelt?«
»Der Tempel der Winde existiert teils in der Welt der Toten und teils in der Welt des Lebendigen. Er existiert an beiden Orten gleichzeitig.«
»An beiden Orten, in beiden Welten gleichzeitig? Wie ist das möglich?«
Die leuchtende Gestalt, die einem vom Licht geworfenen Schatten glich, hob eine Hand. »Ist ein Baum ein Geschöpf der Erde wie die Würmer, oder ist er ein Geschöpf der Lüfte wie die Vögel?«
Kahlan wäre eine einfache Antwort lieber gewesen, doch sie war nicht so unklug, den Toten zu widersprechen.
»Verehrter Großvater, vermutlich gehört der Baum zu keiner Welt, existiert aber in beiden.«
Die Seele schien zu lächeln. »So ist es, Kind«, sagte sie durch den Vogelmann. »Genau wie der Tempel der Winde.«
Kahlan beugte sich vor. »Willst du damit sagen, der Tempel der Winde ist wie der Baum, mit Wurzeln in dieser Welt und den Ästen in der deinen?«
»Er existiert in beiden Welten.«
»Wo befindet er sich in dieser Welt, in der Welt des Lebendigen?«
»Dort, wo er immer war, auf dem Berg der Vier Winde. Du kennst ihn als Berg Kymermosst.«
»Berg Kymermosst«, wiederholte Kahlan tonlos. »Verehrter Großvater, ich war an diesem Ort. Der Tempel der Winde steht nicht mehr dort. Er ist verschwunden.«
»Du mußt ihn finden.«
»Ihn finden? Alles deutet darauf hin, daß er früher einmal dort gestanden hat, doch der Mutterfels des Berges ist an der Stelle, wo der Tempel früher stand, weggebrochen. Der Tempel ist bis auf einige seiner Nebengebäude verschwunden. Dort gibt es nichts mehr. Tut mir leid, verehrter Großvater, aber in unserer Welt sind seine Wurzeln abgestorben und verrottet.«
Die Seele stand da und schwieg. Kahlan befürchtete, sie könnte zornig werden.
»Kind«, sprach die Seele, wenn auch nicht durch den Vogelmann. Die Stimme kam aus der Seele selbst. Der Laut war so schmerzhaft, daß sie ihn kaum ertragen konnte. Ihr war, als werde ihr das Fleisch von den Knochen gebrannt. »Den Winden wurde etwas gestohlen und in deine Welt gebracht. Du mußt Richard helfen, oder all mein Blut in deiner Welt, unser gesamter Stamm, wird sterben.«