Kahlan schluckte. Wie konnte etwas aus der Welt der Seelen, der Welt der Toten, gestohlen und wieder in die Welt der Lebenden zurückgeschafft werden?
»Kannst du mir helfen? Kannst du mir einen Hinweis geben, der mir hilft, den Tempel der Winde zu entdecken?«
»Ich habe dich nicht hergerufen, um dir zu sagen, wie du den Tempel der Winde finden kannst. Die Wege der Winde werden sich mit dem Mond offenbaren. Ich habe dich hierher gerufen, damit du das Ausmaß dessen siehst, was freigesetzt wurde, und was aus deiner Welt werden wird, wenn man zuläßt, daß es weiterbesteht.«
Die Seele des Großvaters breitete die Arme aus. Weiches Licht stürzte kaskadenartig von ihnen herab, wie Wasser, das über ein schmales Felsband fließt. Das Licht breitete sich in ihrem Blickfeld aus, bis sie nichts mehr außer ihm sah.
Es klärte sich, und sie sah den Tod. Überall lagen Leichen, wie Laub, das im Herbst die Erde bedeckt. Sie lagen auf der Straße verstreut, wo sie gestürzt waren. Sie hockten auf Stufen, lehnten zusammengesunken an Geländern. Sie lagen in Hauseingängen und auf Leichenwagen. Kahlans Blick wurde wie auf den Schwingen eines Vogels durch Fenster getragen. Tote verwesten in ihren Häusern. Sie sah sie in Betten, auf Stühlen, in Fluren, hingestreckt auf dem Fußboden und übereinander gesunken.
Der Gestank raubte ihr den Atem.
Kahlan schwebte durch bekannte Ortschaften und Städte, und überall war es das gleiche. Der Tod hatte fast jeden dahingerafft, die Körper der Menschen wurden schwarz und faulig, noch bevor sie starben. Wohin sie sich auch wandte, überall weinten die wenigen Überlebenden voller Qualen.
Sie kehrte ins Dorf der Schlammenschen zurück. Dort sah sie die Leichen von Menschen, die sie kannte. Neben den Kochfeuern lagen tote Mütter, die ihre toten Kinder in den Armen hielten. Tote Ehemänner umschlangen ihre toten Frauen. Da und dort trauerten verwaiste Kinder mit tränenverschmierten Gesichtern und weinten hysterisch neben den Leichen ihrer Eltern. Der Gestank war allenthalben so überwältigend, daß ihre Augen tränten.
Kahlan unterdrückte ein Schluchzen und schloß die Augen. Es hatte keinen Sinn. Der Anblick der Toten brannte sich tief in ihre Seele ein.
»Das«, sagte der Großvater, »wird sich zutragen, wenn das, was den Winden gestohlen wurde, nicht aufgehalten wird.«
»Was kann ich tun?« fragte Kahlan leise weinend.
»Die Winde wurden geschändet. Man hat gestohlen, was ihnen anvertraut wurde. Die Winde haben beschlossen, du sollst der Pfad des Prinzen sein. Ich bin gekommen, um dir die Folgen dieser Schändung vor Augen zuführen und dich im Namen meiner lebenden Nachkommen zu bitten, deinen Teil zu tun, sobald man dich darum bittet.«
»Und was ist der Preis dafür?«
»Man hat mir den Preis nicht gezeigt, aber ich warne dich vorab:
Du hast keine Möglichkeit, dies zu umgehen oder zu vermeiden. Es muß geschehen, wie es dir offenhart wird, oder alles ist verloren. Ich möchte dich bitten, schlage den Weg ein, sobald die Winde ihn dir zeigen, denn sonst wird sich ereignen, was ich dir gezeigt habe.«
Kahlan, der die Tränen in Strömen über die Wangen liefen, brauchte nicht lange nachzudenken. »Ich werde es tun, Großvater.«
»Danke, Kind. Da ist noch etwas, das ich dir sagen möchte. In unserer Welt, in der die Seelen derer residieren, die aus deiner Welt gegangen sind, gibt es zum einen jene, die ihr Dasein im Licht des Schöpfers fristen, zum anderen die, die auf ewig durch den Hüter im Schatten seiner Herrlichkeit gehalten werden.«
»Willst du damit sagen, daß sowohl Gute als auch Böse Seelen in diese Angelegenheit verwickelt sind?«
»Das wäre eine übertriebene Vereinfachung, die fast den Blick auf die Wahrheit verstellt, aber näher kannst du in deiner Welt dem Verständnis dieser Welt nicht kommen. In dieser unserer Welt machen alle sie zu dem, was sie ist. Die Winde sind verpflichtet, jeden den Pfad selbst bestimmen zu lassen.«
»Kannst du mir sagen, wie die Magie den Winden gestohlen wurde?«
»Der Pfad war Verrat.«
»Verrat? Wen haben sie verraten?«
»Den Hüter.«
Kahlan sackte das Kinn herunter. Sie mußte sofort an die Schwester der Finsternis denken, die in Aydindril gewesen war: Schwester Amelia. Um die mußte es sich handeln. »Die Schwester der Finsternis hat ihren Herrn und Meister verraten?«
»Es war der Pfad dieser Seele, den Tempel der Winde durch den Saal des Verräters zu betreten. Das ist die einzige Möglichkeit, die erste und entscheidende Bresche zu schlagen. Sie wurde als Vorsichtsmaßnahme geschaffen.
Um den Saal des Verräters betreten zu können, muß der Betreffende alles vollständig und unwiderruflich verraten, an das er glaubt. Da er seine Ziele unwiederbringlich verraten hat, besitzt er keinen Grund mehr einzutreten.
Der Traumwandler fand eine Prophezeiung, die sich dazu benutzen ließ, seinen Widersacher zu besiegen, aber um sie in Kraft treten zu lassen, benötigte er eine Magie der Winde.
Er fand eine Möglichkeit, diese Seele zu zwingen, ihren Herrn und Meister, den Hüter, zu verraten und dennoch die Wünsche des Traumwandlers zu erfüllen. Dies gelang ihm, indem er anfangs zuließ, daß sie ihren Eid an den Hüter aufrechterhielt, und er sich selbst die Rolle ihres untergeordneten Meisters, ihres Herrn und Meisters in deiner Welt alleine, übertrug. Anschließend zwang er sie, ihren obersten Herrn und Meister zu verraten. Sie konnte den Saal des Verräters betreten, ohne daß ihr Auftrag und ihre Pflicht ihm gegenüber Schaden nahmen. Auf diese Weise schändete der Traumwandler die Winde und erreichte sein Ziel.
Diejenigen aber, die den Tempel in die Winde schickten, entwarfen einige Notpläne für den Fall, daß dergleichen geschehe. Der rote Mond war der Auslöser dieser Pläne.«
Bereits beim Wort Verrat schlug Kahlans Herz heftiger. »Müssen wir uns auf diese Art Zutritt zu den Winden verschaffen?«
Die Seele betrachtete sie nachdenklich, als wäge sie ihr Innerstes ab. »Ist der Tempel der Winde erst einmal geschändet, ist der Pfad verschlossen, und ein anderer muß gewählt werden. Aber das ist nicht deine Sorge. Die Winde werden ihre Bedingungen in Übereinstimmung mit den Geboten des Gleichgewichts bekanntgeben. Jene fünf Seelen, die die Winde bewachen, werden den Pfad entsprechend vorzeichnen.«
»Verehrter Großvater, wie kann ein Palast Anweisungen geben? Das klingt, als seien die Winde lebendig.«
»Ich existiere in der Welt des Lebendigen nicht mehr, aber wenn ich gerufen werde, kann ich Wissen durch den Schleier hindurch weitergeben.«
Kahlan schmerzte der Kopf vom Versuch, das alles zu begreifen.
Sie wünschte, Richard wäre hier, um Fragen zu stellen. Sie hatte Angst, die eine entscheidende zu vergessen.
»Aber verehrter Großvater, du kannst das tun, weil du eine Seele bist. Du hast gelebt. Du hast einen unsterblichen Geist.«
Die Seele begann zu verblassen.
»Die Grenze, der Schleier, wurde durch dieses Ereignis in den Winden beschädigt. Ich kann nicht länger verweilen. Die Skrin, die Bewacher der Grenze zwischen den Welten, ziehen mich zurück. Da die Schändung der Winde das Gleichgewicht verändert hat, können wir erst wieder zu einer Versammlung kommen, wenn dieses Gleichgewicht wiederhergestellt ist.« Die Seele verblaßte, bis sie kaum noch zu erkennen war.