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Die Menschen fürchteten sich vor ihm. Sie las es ihnen von den Augen ab. Allerdings konnte sie ihre Angst verstehen. Sehr gut wußte sie noch, wie sie sich vor ihm gefürchtet hatte, bevor sie ihn näher kennengelernt hatte. Mittlerweile konnte sie sich kaum mehr erinnern, wieviel Furcht ihr der Anblick des riesenhaft wirkenden Propheten eingeflößt hatte.

Sie war überzeugt, er könnte eine ganze Armee in die Flucht schlagen, wenn er seine himmelblauen Augen auf die Menschen richtete und seine habichtartige Stirn ungehalten senkte.

Nathan streckte seinen Arm, und der Brief schwebte hinüber zu dem grimmig dreinblickenden Soldaten. »Hast du alle meine Anweisungen behalten, Walsh?«

Der Soldat schnappte den Brief aus der Luft und stopfte ihn in seine Uniformjacke. Zwar benahm er sich respektvoll, ließ sich aber offenbar nicht von Nathan einschüchtern.

»Selbstverständlich. Ihr solltet mich eigentlich besser kennen, Nathan.«

Nathan legte ein wenig seines vornehmen Gehabes ab und kratzte sich am Kopf. »Wahrscheinlich.«

Clarissa fragte sich, wo Nathan diesen Soldaten aufgetan und wann er Zeit gehabt hatte, ihm Anweisungen zu geben. Vermutlich hatte er das Zimmer verlassen, während sie schlief.

Der Soldat sah irgendwie anders aus als die meisten anderen, denen sie bislang begegnet war. Er trug einen Reiseumhang, hatte lederne Taschen an seinem Gürtel, und seine Kleider waren von einer besseren Qualität als die der gewöhnlichen Soldaten, an deren Anblick sie sich mit der Zeit gewöhnt hatte. Auch war sein Schwert kürzer und sein Messer länger. Er war auch nicht gerade klein. Er war ebensogroß wie ihr Geliebter, wenn Nathan in ihren Augen durch seine Körperhaltung auch größer erschien als jeder andere.

»Übergib den Brief General Reibisch«, sagte Nathan. »Und vergiß nicht, sollte eine dieser Schwestern auf die Idee kommen, dich auszufragen, dann warnst du sie, wie ich es dir gesagt habe, und erklärst ihr, Lord Rahl habe dir befohlen, für dich zu behalten, was man dir aufgetragen hat. Das dürfte ihnen den Mund fest verschließen.«

Der Soldat lächelte wissend. »Verstanden … Lord Rahl.«

Nathan nickte. »Gut. Was ist mit den anderen?«

Soldat Walsh machte eine unbestimmte Handbewegung. »Bollesdun wird in der Nähe bleiben und Euch über das unterrichten, was er in Erfahrung bringt. Ich bin ziemlich sicher, daß es nur Jagangs Expeditionsstreitkräfte waren, Bollesdun wird das aber noch genau in Erfahrung bringen. So groß sie auch war, verglichen mit der Hauptstreitmacht war das nicht viel. Nichts deutet darauf hin, daß seine Hauptstreitmacht von der Umgebung von Grafan nach Norden vorgerückt ist.

Soweit ich gehört habe, gibt Jagang sich damit zufrieden, herumzusitzen und auf etwas Bestimmtes zu warten. Ich weiß nicht, worauf, aber jedenfalls zieht er nicht in Eilmärschen nach Norden, in die Neue Welt.«

»Mit der Armee, die ich gesehen habe, ist er bis weit in die Neue Welt vorgedrungen.«

»Ich bin nach wie vor der Überzeugung, daß es sich nur um Kundschafter handelt. Jagang ist ein geduldiger Mann. Es hat ihn Jahre gekostet, bis er die Alte Welt erobern und unter seiner Herrschaft vereinen konnte. Damals wandte er weitgehend dieselbe Taktik an: Er schickte seine Expeditionsstreitkräfte vor, um eine Schlüsselstadt einzunehmen und Informationen zu sammeln, meist in Form von Aufzeichnungen und Büchern. Diese Männer gehen brutal vor, das ist auch Teil ihrer Aufgabe, aber im Grunde werden sie geschickt, um die Bücher zu beschaffen.

Ihre Beute schicken sie zurück und warten dann ab, wohin Jagang sie als nächstes sendet. Bollesdun läßt das durch einige von unseren Leuten überprüfen, aber sie müssen vorsichtig sein. Daher kann es eine Weile dauern, genießt also einfach die Wartezeit.«

Nathan strich sich grübelnd übers Kinn. »Ja, ich könnte mir denken, daß Jagang noch nicht scharf darauf ist, seine Armee in die Neue Welt einmarschieren zu lassen.« Er richtete seinen Blick wieder auf Walsh. »Am besten machst du dich gleich auf den Weg.«

Walsh nickte. Sein Blick wanderte umher und traf sich mit Clarissas. Er sah wieder zu Nathan hinüber, und ein kleines Lächeln stahl sich auf seine Lippen.

»Ein Mann ganz nach meinem Herzen.«

Nathan lachte leise in sich hinein. »Die Angelegenheiten des Herzens sind eines der Wunder der Natur.«

Die Art, wie Nathan die Worte aussprach, erfüllte Clarissas Herz mit Stolz darüber, daß sie an den Angelegenheiten seines Herzens teilhatte.

»Seid hier mitten im Nest der Ratten vorsichtig, Nathan. Mir soll nicht zu Ohren kommen, Ihr hättet am Ende doch keine Augen im Hinterkopf.« Er tippte mit der Hand auf die Uniformjacke, in die er den Brief gesteckt hatte. »Erst recht nicht, nachdem ich das hier abgegeben habe.«

»Sicher, Junge. Sorge du nur dafür, daß du den Brief ablieferst.«

»Ihr habt mein Wort darauf.«

Nachdem Nathan die Tür geschlossen hatte und das Geschäftliche erledigt war, wandte er sich zu ihr um. Er hatte wieder dieses Funkeln in den Augen. Dieses lustvolle Funkeln. Sein verschmitztes Lächeln kehrte zurück.

»Endlich allein, mein Liebling.«

Clarissa quiekte und floh in gespieltem Schrecken zum Bett.

45

»Was geht deiner Meinung nach hier vor?« fragte Ann.

Zedd reckte seinen Kopf in die Höhe und versuchte, etwas zu erkennen. Es war schwierig, vorbei an der Wand aus Beinen, die sie umgab, einen guten Blick zu erhaschen. Die Seelenjäger der Nangtong erteilten schnatternd Kommandos, die er nicht verstand. Einige der Speere aber, die aus dem Kreis auf sie zielten, legten sich ihm auf die Schulter und gaben ihm unmißverständlich zu verstehen, er rühre sich besser nicht von der Stelle.

Bewacht von einem Ring der Wilden, saßen er und Ann mit übereinandergeschlagenen Beinen auf der Erde, während andere ein Stück entfernt mit einer Gruppe Si Doak zusammenhockten und verhandelten.

»Sie sind zu weit weg, um Genaues zu verstehen, aber selbst wenn wir sie hören könnten, nützte das vermutlich auch nicht viel. Ich spreche nur ein paar Brocken Si Doak.«

Ann pflückte einen langen Grashalm und wickelte ihn sich um den Finger. Sie sah nicht zu Zedd hinüber. Schließlich wollte sie ihre Häscher nicht auf den Gedanken bringen, sie seien bei klarem Verstand und in der Lage, irgend etwas auszuhecken.

Nur um den Schein zu wahren, stieß Ann ein hohes, gackerndes Lachen aus. »Was weißt du über diese Si Doak?«

Zedd flatterte mit den Armen wie ein Vogel, der im Begriff steht, sich in die Lüfte zu erheben. »Ich weiß, daß es bei ihnen keine Menschenopfer gibt.«

Ein Wächter schlug Zedd den Speerschaft auf den Kopf, als wollte er ihm jede Absicht austreiben davonzufliegen. Statt loszufluchen, was er nur zu gerne getan hätte, heulte Zedd vor Lachen.

Ann sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Änderst du allmählich deine Einstellung, man sollte diese Nangtong ganz nach ihrem Gutdünken leben lassen?«

Zedd grinste. »Wenn ich sie so leben lassen wollte, wie sie es für richtig halten, wären wir längst in der Welt der Seelen. Nur weil man davon überzeugt ist, man sollte Wölfen ihren Frieden lassen, muß man ihnen noch lange nicht erlauben, einem nach Belieben die Herde wegzufressen.«

Sie pflichtete ihm brummend bei.

Ein gutes Stück entfernt, gleich neben einem leicht ansteigenden Hang, zog sich die Verhandlung hin. Ungefähr zehn der Nangtong und die gleiche Anzahl Si Doak saßen mit übereinandergeschlagenen Beinen im Kreis. Die Nangtong zählten laut ab und begleiteten dies mit übertriebenen Armbewegungen. Sie deuteten in Zedds Richtung. Sie schwangen unverständliche, aber scheinbar tiefempfundene Reden.

Zedd beugte sich zu Ann und meinte leise: »Soweit ich weiß, sind die Si Doak ziemlich friedfertig. Mir ist nie zu Ohren gekommen, daß sie Krieg geführt hätten oder gewaltsam gegen ihre Nachbarn vorgegangen wären, nicht einmal gegen schwächere. Aber wenn es ums Feilschen geht, sind sie skrupellos. Die meisten Stämme in diesem Teil der Wildnis würden es vorziehen, mit einem Wolf zu verhandeln. Andere Stämme bringen ihrem Nachwuchs bei, wie man kämpft, die Si Doak jedoch das Feilschen.«