Berdine sah ihn an. »Soll das heißen, Ihr glaubt, die Bücher selbst könnten gefährlich sein? Nicht bloß das Wissen in ihnen, sondern tatsächlich das Papier selbst?«
Richard mußte an die Beschreibung jenes Buches denken, das Schwester Amelia benutzt hatte, um die Pest auszulösen. »Ich bin mir nicht sicher, aber wir täten gut daran, sie so zu behandeln. Seht Euch um, aber faßt nichts an.«
Berdine legte die Stirn in Falten und machte ein zweifelndes Gesicht. »Ich sehe alleine Tausende von Büchern hier herumstehen, Lord Rahl. In den Zwischengängen gibt es bestimmt noch mehr. Wir werden Wochen brauchen, bis wir das Gesuchte gefunden haben – wenn es sich überhaupt hier befindet.«
Richard atmete tief durch. Berdine hatte recht. So viele Bücher hatte er nicht erwartet. Er hatte angenommen, daß die meisten in den Bibliotheken standen und es hier nur einige wenige gäbe.
»Wenn Ihr vor dem Dunkelwerden wieder draußen sein wollt, bleibt uns nicht viel Zeit«, sagte Raina. »Aber ebensogut können wir morgen wiederkommen und ganz früh anfangen.«
Allmählich wurde Richard ein wenig bange angesichts der vor ihnen liegenden Aufgabe. »Dann müssen wir eben bis nach Einbruch der Dunkelheit bleiben. Wenn es sein muß, die ganze Nacht.«
Raina rollte ihren Strafer zwischen den Fingern. »Ganz wie Ihr meint, Lord Rahl.«
Richard verlor den Mut, als er dastand und auf den Wald aus Büchern starrte. Was er benötigte, war Wissen, eine Suche nach einer Nadel im Heuhaufen konnte er nicht gebrauchen. Wenn er nur Magie einsetzen könnte, um diese eine Nadel zu finden.
Untätig rückte er die Bänder an seinem Handgelenk zurecht. Unter seinen Fingern spürte er das Sonnenaufgangssymbol auf einem von ihnen.
Schaue, ohne deinen Blick auf etwas Bestimmtes zu richten.
»Ich habe eine Idee«, sagte er. »Wartet hier. Ich bin gleich wieder da.«
Richard ging zu den Säulen zurück. Er trat an eine heran, auf der eine gesprungene Schale aus Glas auf einem großen Rechteck aus schwarzem Stoff stand.
»Wozu soll das gut sein?« fragte Raina, als er zurückkam und ihnen den Stoff zeigte.
»Es gibt zuviel zu sehen. Ich werde es als Augenbinde benutzen, damit ich nicht all die Dinge sehe, die ich nicht sehen will.«
Berdine zog ein ungläubiges Gesicht. »Wenn Ihr die Augen verbunden habt, wie wollt Ihr dann den Gegenstand finden, den wir suchen?«
»Mit Magie. Ich will versuchen, mich von der Magie leiten zu lassen. Manchmal funktioniert es so – über das Verlangen. All diese Bücher zusammen sind viel zu verwirrend. Wenn ich die Augen verbunden habe, werde ich sie nicht sehen und imstande sein, das eine zu spüren, das ich suche. Hoffe ich wenigstens.«
Rainas Blick wanderte staunend über die Unmenge von Büchern hinweg. »Na ja, Ihr seid Lord Rahl. Ihr besitzt Magie. Wenn eine Chance besteht, uns zu ersparen, die ganze Nacht hier zu verbringen, würde ich sagen, probiert es.«
Richard legte das schwarze Tuch über seine Augen und verknotete die Enden hinter seinem Kopf. »Führt mich einfach nur, und achtet darauf, daß ich nirgendwo anstoße. Und Vergeßt nicht, daß Ihr ebenfalls nichts berühren dürft.«
»Was uns anbetrifft, könnt Ihr ganz unbesorgt sein, Lord Rahl«, erwiderte Raina. »Wir haben nicht die Absicht, hier irgend etwas anzufassen.«
Nachdem er sich die Augen verbunden hatte, drehte Richard seinen Kopf nach rechts und links, um sich zu vergewissern, daß er nichts mehr sehen konnte. Mit einem Finger rieb er über das Sonnenaufgangssymbol auf seinem Armband.
Seine Welt war stockdunkel. Er versuchte den Ort seines inneren Friedens, der inneren Ruhe zu finden, wo seine Gabe beheimatet war.
Wenn die Pest durch Magie aus dem Tempel der Winde gekommen war, dann hatten sie vielleicht eine Chance, sie aufzuhalten. Wenn er nichts unternahm, würden unzählige Tausende Menschen sterben.
Er brauchte dieses Buch.
Er mußte an den Jungen denken, den er hatte sterben sehen. An das kleine Mädchen Lily, das ihm von der Schwester der Finsternis erzählt hatte, die ihm das Buch gezeigt hatte. So hatte die Pest angefangen. Das wußte er.
Dieses nette Kind hatte die Male gehabt. Richard hatte sich nicht danach erkundigt, aber er wußte, daß sie inzwischen nicht mehr lebte. Er ertrug es nicht nachzufragen.
Er brauchte dieses Buch.
Er setzte einen Fuß vor. »Berührt mich vorsichtig mit den Fingern, wenn ich Gefahr laufe, gegen etwas zu stoßen. Versucht kein Wort zu sagen, doch wenn Ihr müßt, habt keine Angst, laut und deutlich zu sprechen.«
Er spürte, wie ihre Finger ihn leicht am Arm berührten, sobald er einen Schritt machte. So lenkten sie ihn und verhinderten, daß er, während er sich immer tiefer in den Irrgarten vorarbeitete, vor die hochaufragenden Büchertürme lief.
Richard wußte nicht, auf welches Gefühl er warten sollte. Er wußte nicht, ob es Magie war, eine Ahnung oder seine Phantasie, die ihn leitete. Die Art, wie er vor und zurück durch die Gänge ging und sich zwischen den Stapeln hindurchschlängelte, ließ ihn befürchten, daß ihm seine Phantasie einen Streich spielte. Er gab sich Mühe, die Dinge zu ignorieren, die seine Gedanken abschweifen ließen.
So versuchte er sich auf das Buch zu konzentrieren und auf sein Bedürfnis, es zu finden.
Er glaubte, sich besser konzentrieren zu können, wenn er an die kranken Kinder dachte. Sie brauchten ihn. Sie waren hilflos.
Richard merkte, wie er mit einem Ruck stehenblieb. Er fragte sich, warum. Er wandte sich nach links, als er dachte, er werde rechts abbiegen müssen. Das mußte die Gabe sein. Dann war das Gefühl verschwunden. Er sammelte abermals seine Konzentration.
Die beiden Mord-Sith griffen beherzt nach seinem Arm, damit er stehenblieb. Er verstand. Noch ein Schritt, und er wäre mit einem Stapel zusammengestoßen.
Er fragte sich noch, in welche Richtung man ihn drehen werde, als er sich dabei ertappte, wie er in die Hocke ging und die Hand ausstreckte.
»Vorsicht«, warnte Berdine leise. »Der Stapel ist hoch und kippelig. Seid vorsichtig, sonst stoßt Ihr ihn um.«
Richard nickte. Er wollte sich nicht dadurch ablenken, daß er mit Worten antwortete. Er richtete alle Aufmerksamkeit darauf, das Ziel seines Verlangens zu erspüren. Es war ganz nahe. Seine Finger streiften ganz leicht über die Bücher, fuhren am Stapel nach unten, berührten manchmal den Rücken und dann wieder die Seiten, wenn sie andersherum lagen.
Auf einem Buchrücken machten seine Finger halt.
»Dieses hier.« Er tippte auf den Ledereinband. »Dies hier. Was steht dort?«
Berdine stützte sich mit einer Hand auf seinem Oberschenkel ab und beugte sich vor. »Es ist auf Hoch-D'Haran. Irgendwas über den Tempel der Winde – ›Tagenricht ost fuer Mosst Verlaschendreck nich Greschlechten.‹«
»Tempel der Winde – Untersuchung und Verfahren«, übersetzte Richard im Flüsterton. »Das ist es.«
47
Atme, sagte die Sliph.
Kahlan stieß die seidige Substanz aus und sog die fremdartige Luft tief in die Lungen. Der düstere Raum des Brunnens der Sliph unten in der Burg der Zauberer wirbelte um sie herum. Schließlich kam das Gestein der Wände und des Fußbodens zur Ruhe. Die Kuppel oben schien ihre Drehung zu verlangsamen.
Eine Überraschung erwartete sie.
Den Stuhl nach hinten gekippt, die Füße auf den Tisch gelegt, saß dort eine in rotes Leder gekleidete Gestalt. Kahlan hockte sich an den Brunnenrand und ließ die Beine baumeln, während sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.
Die Vorderbeine des Stuhls landeten mit einem dumpfen Knall auf dem Boden. »Sieh an, sieh an, die umherwandernde Mutter Konfessor kehrt endlich nach Hause zurück.«
Kahlan sprang hinunter auf den Fußboden. Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren, so sehr kreiste und schwankte er.
»Cara, was macht Ihr hier unten?«
Cara stützte Kahlan. »Ihr solltet Euch setzen, bis Ihr wieder sicher stehen könnt.«
»Mir geht es gut.« Kahlan sah kurz über ihre Schulter in das silberne Gesicht hinter ihr. »Danke, Sliph.«