»Was meinte er damit?« fragte Kahlan.
»Ich glaube, wenn die Zauberer tatsächlich Menschen mißbrauchten – sie zerstörten –, um Wesen zu schaffen, die sie für die Kriegführung benötigten, dann verwendeten sie dafür Menschen, die aus dem einen oder anderen Grund störend oder lästig waren – Menschen, deren Schicksal ihnen gleichgültig war. Ich habe mir sagen lassen, ein Zauberer müsse die Menschen benutzen. Ich glaube kaum, daß jemand ahnt, welch grauenhafte Herkunft dieser Grundsatz hat.«
Er sah die Bestürzung in ihren Augen.
»Nach dem, was du gelesen hast, Richard, glaubst du, es ist hoffnungslos? Glaubst du, wir können gar nichts tun?«
Richard wußte nicht, was er antworten sollte. Er nahm ihre Hand. »Bevor sie hingerichtet wurden, führte die Tempelmannschaft zu ihrer Verteidigung an, sie hätten den Tempel nicht endgültig verschlossen, was sie leicht hätten tun können, sondern hätten statt dessen eine Möglichkeit gelassen, hinein zugelangen und auf den Hilferuf zu reagieren. Sie behaupteten, wenn die Not wirklich groß genug sei, könne man ihn nach wie vor betreten.
Ich werde hineinkommen, Kahlan. Das schwöre ich.«
Einen kurzen Moment lang leuchtete in ihren wunderschönen Augen so etwas wie Erleichterung auf, doch dann bekam ihr Blick wieder etwas Gehetztes. Richard wußte, was sie dachte. Er hatte sich dieselbe Frage gestellt, als er vom Wahnsinn des Krieges und dem, was die Menschen sich gegenseitig antaten, gelesen hatte.
»Wir benutzen keine Magie, um Menschen für unsere Zwecke zu zerstören, Kahlan. Wir benutzen sie, um etwas zu bekämpfen, dem hilflose Kinder zum Opfer fallen. Wir treten für die Freiheit von Terror und Mord ein.«
Ein vorsichtiges Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück, und sie drückte seine Hand.
Als es an der offenen Tür klopfte, hoben beide den Kopf.
Es war Drefan. »Darf ich hereinkommen? Ich störe doch nicht, oder?«
»Nein, schon in Ordnung«, sagte Richard. »Komm rein.«
»Ich wollte nur, daß du weißt, daß ich die Karren bestellt habe, wie du es gewünscht hast. Es ist soweit.«
Richard strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Wie viele?«
»Letzte Nacht ein wenig über dreihundert, wenn man davon ausgeht, daß sämtliche Berichte vorliegen. Wie du vermutet hast, können die Menschen diese Menge von Toten nicht mehr bewältigen, und die Zahlen steigen jeden Tag noch.«
Richard nickte. »Wir können die Toten unmöglich warten lassen. Wenn wir tatenlos zusehen, wie sie unter freiem Himmel verwesen, könnte sich die Pest noch schneller ausbreiten. Die Menschen müssen sofort nach ihrem Ableben beerdigt werden. Sag den Männern, ich will, daß die Totenkarren losgeschickt werden, sobald sie das organisiert haben. Ich gebe ihnen bis Sonnenuntergang Zeit.«
»Das habe ich ihnen bereits erklärt. Wie du sagtest, dürfen wir nicht zulassen, daß mit der Pest infizierte Leichen herumliegen, um die sich niemand kümmert. Das könnte die Seuche noch verschlimmern.«
»Kann sie überhaupt noch schlimmer werden?« fragte Richard spöttisch.
Drefan antwortete nicht.
»Entschuldige«, sagte Richard. »Das war nicht der rechte Ton. Hast du irgend etwas gefunden, das uns weiterhelfen könnte?«
Drefan zog die Ärmel seines weißes Hemds herunter. »Gegen die Pest gibt es kein Heilmittel, Richard. Zumindest kenne ich keines. Die einzige Hoffnung besteht darin, gesund zu bleiben. Wo wir gerade davon sprechen, es ist ungesund, den ganzen Tag und den größten Teil der Nacht hier herumzusitzen. Du bekommst schon wieder nicht genug Schlaf. Das sehe ich dir an den Augen an. Ich habe dich schon einmal gewarnt. Du brauchst Bewegung und frische Luft.«
Richard war den Versuch leid, das Buch zu übersetzen, war die Dinge leid, die er entdeckte, wenn es ihm gelang. Er klappte es zu und stieß seinen Stuhl zurück.
»Es hat sowieso keinen Zweck. Befolgen wir deinen Vorschlag, und gehen wir spazieren.« Er reckte sich und gähnte. »Und womit hast du dir die Zeit vertrieben, während ich in diesem muffigen Zimmer eingeschlossen war?« fragte er Kahlan.
Sie sah heimlich zu Drefan hinüber. »Ich … ich habe Drefan und Nadine geholfen.«
»Ihnen geholfen? Wobei?«
Drefan strich die Rüschen auf seiner Hemdbrust glatt. »Kahlan hat sich um die Dienstboten gekümmert. Einige von ihnen sind … erkrankt.«
Richard blickte erst Kahlan, dann Drefan an. »Die Pest hat bereits den Palast erreicht?«
»Ich fürchte, ja. Sechzehn Dienstboten sind erkrankt. Ein paar haben ganz gewöhnliche Krankheiten, die übrigen –«
Richard seufzte schwer. »Verstehe.«
Draußen vor seinem Zimmer hielt Raina Wache. Sie drückte den Rücken durch, als Richard aus der Tür trat.
»Wir gehen ein wenig spazieren, Raina. Am besten begleitet Ihr uns, sonst liegt mir Cara ewig damit in den Ohren.«
Lächelnd strich Raina eine dunkle Locke zurück. Sie wußte, er hatte recht, und war sichtlich froh, daß er sich fügte.
»Lord Rahl«, sagte Raina, »ich wollte Euch nicht bei der Arbeit stören, aber der Kommandant der Stadtwache hat seinen Bericht gebracht.«
»Ich weiß. Ich habe es bereits gehört. Letzte Nacht sind dreihundert Menschen gestorben.«
Rainas Lederanzug knarzte, als sie ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte. »Das auch. Aber ich soll Euch ausrichten, daß man gestern abend eine weitere Frau gefunden hat. Sie wurde aufgeschlitzt, wie schon die anderen vier.«
Richard schloß die Augen, fuhr sich mit der Hand über den Mund und mußte feststellen, daß er an diesem Tag nicht daran gedacht hatte, sich zu rasieren. »Bei den Gütigen Seelen. Sterben nicht so schon genug Menschen, auch ohne daß so ein Irrer noch mehr umbringt?«
»War sie auch eine Hure wie die anderen?« erkundigte sich Drefan.
»Der Kommandant sagte, das könne er nicht mit absoluter Gewißheit sagen, aber er sei sich ziemlich sicher.«
Drefan schüttelte angewidert den Kopf. »Man sollte meinen, er hätte Angst vor der Pest oder davor, gefaßt zu werden. Die Pest läuft unter den Huren Amok, mehr noch als unter der übrigen Bevölkerung.«
Richards Blick fiel auf Berdine, die den Flur entlangkam. »So gerne ich etwas dagegen unternehmen würde, zur Zeit haben wir größere Sorgen.« Er wandte sich an Raina. »Sobald wir zurück sind, teilt Ihr dem Kommandanten mit, seine Soldaten sollen unter diesen Frauen die Nachricht verbreiten, daß ein Mörder umgeht und wir um ihrer eigenen Sicherheit willen hoffen, daß sie ihren Beruf aufgeben, wenigstens bis auf weiteres.
Ich bin sicher, die Soldaten wissen, wo sie die Huren finden«, fügte er kaum hörbar hinzu. »Sie sollen die Nachricht sofort verbreiten. Wenn diese Frauen nicht damit aufhören, ihren Körper zu verkaufen, werden sie sich aller Wahrscheinlichkeit nach in Gesellschaft eines falschen Freiers wiederfinden. Und das wird dann ihr letzter sein.«
Richard wartete, bis Berdine sie erreicht hatte. »Solltet Ihr nicht in der Burg sein und Eure Schicht bei der Bewachung der Sliph übernehmen?« fragte Richard.
Berdine zuckte die Achseln. »Ich war oben, um Cara abzulösen, aber sie sagte, sie wolle noch eine weitere Wache bleiben.«
Richard harkte sich sein Haar zurück. »Warum sollte sie das tun?«
Berdine zuckte erneut die Achseln. »Das hat sie mir nicht verraten.«
Kahlan nahm ihn beim Arm. »Ich glaube, es sind die Ratten.«
»Was?«
»Ich kann es ihr nicht verdenken«, murmelte Berdine.
»Widerliche Biester«, warf Drefan ein. »Ich kann es ihr auch nicht verdenken.«
»Wenn einer von euch sie deswegen aufzieht«, warnte Kahlan, »bekommt er es mit mir zu tun – sobald Cara mit ihm fertig ist. Das ist nicht komisch.«
Offenbar war niemand in der Stimmung, Kahlan zu widersprechen, noch war jemand in der rechten Laune, daran etwas komisch zu finden.