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»Wohin geht Ihr?« fragte Berdine.

»Spazieren«, antwortete Richard. »Wahrscheinlich habt Ihr ebenso viel herumgesessen wie ich. Begleitet uns doch, wenn Ihr wollt.«

Nadine bog um die Ecke und erblickte sie just in dem Moment, als sie nach draußen gehen wollten. »Was ist denn hier los?«

»Nichts«, erwiderte Richard. »Wie geht es dir, Nadine?« Sie lächelte. »Gut, danke. Ich habe die Krankenzimmer ausgeräuchert, wie Drefan mich gebeten hat.«

»Wir wollen nur ein wenig Spazierengehen«, sagte Kahlan. »Ihr habt hart gearbeitet, Nadine. Warum begleitet Ihr uns nicht?«

Richard sah Kahlan stirnrunzelnd an. Sie begegnete seinem Blick nicht.

Nadine musterte Kahlan einen Augenblick lang. »Sicher, sehr gerne.«

Die sechs begaben sich zum Haupttor des Palastes, gingen durch Marmorflure, vorbei an beeindruckenden Wandbehängen und eleganten Möbeln, über kostbare Teppiche. Patrouillierende Soldaten verbeugten sich oder schlugen sich die Faust aufs Herz, als die sechs vorüberkamen. Die Dienstboten, die Richard bei der Arbeit sah, schienen sich in einem Schockzustand zu befinden. Er bemerkte Menschen, die ihre Arbeit hastig und unter Tränen erledigten.

Kurz vor Erreichen der Tür begegneten sie Tristan Bashkar. Richard war nicht in der Stimmung, mit dem jaranischen Botschafter zu plaudern. Tristan kam auf sie zugeschlendert und blieb vor ihnen stehen. Diesmal sollte es ihnen nicht gelingen, ihm aus dem Weg zu gehen.

Der Mann neigte den Kopf. »Mutter Konfessor, Lord Rahl, es freut mich, Euch hier zufällig zu treffen.«

»Was wollt Ihr, Tristan?« fragte Kahlan in gleichmütigem Ton.

Er starrte beim Sprechen auf ihren Busen. Sein Blick wanderte hinüber zu Richard. »Mich würde interessieren –«

Richard schnitt ihm das Wort ab. »Seid Ihr gekommen, um die Kapitulation Jaras anzubieten?«

Tristan zog seinen Uniformrock zurück und stützte seine Hand auf die Hüfte. »Die mir zugestandene Zeit ist noch nicht abgelaufen. Ich mache mir Sorgen wegen dieser Pest. Ihr seid Lord Rahl. Angeblich regelt Ihr jetzt sämtliche Amtsgeschäfte. Mich würde interessieren, was Ihr gegen die Seuche zu unternehmen gedenkt?«

Richard hielt sich zurück. »Was wir nur können.«

Tristan schielte erneut auf Kahlans Busen. »Nun, Ihr versteht sicher, daß ich Gewißheit haben muß.« Sein Blick wandte sich wieder Richard zu. Ein verschlagenes Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit. »Wie kann ich schließlich mein Land guten Gewissens einem Mann überantworten, unter dessen Herrschaft sich die möglicherweise größte Katastrophe in der Geschichte der Midlands abspielt? Das soll keine Beleidigung sein. Der Himmel sagt mir die Wahrheit. Ich bin sicher, Ihr habt Verständnis für meinen Standpunkt.«

Richard beugte sich zu dem aufgeblasenen Botschafter vor. »Eure Zeit läuft sehr bald ab, Botschafter. Bereitet Euch darauf vor, Jara bald zu übergeben, sonst werde ich mich selbst darum kümmern – auf meine Art. Und wenn Ihr uns jetzt entschuldigen würdet, wir brauchen dringend frische Luft. Hier drinnen stinkt es plötzlich.«

Tristan Bashkars Miene verfinsterte sich.

Als sein Blick zu Kahlan zurückwanderte, riß Richard Tristan das Messer aus der Scheide an seinem Gürtel, bevor dieser auch nur mit den Augen blinzeln konnte.

Richard setzte dem Mann die Messerspitze auf die Brust.

»Und wenn ich Euch noch ein einziges Mal dabei erwische, daß Ihr Kahlan mit Euren lüsternen Blicken woanders hin als ins Gesicht seht, schneide ich Euch das Herz heraus.«

Richard machte kehrt, schleuderte das Messer fort und versenkte es in einer Eichenholzkugel auf einem in der Nähe stehenden Geländerpfosten. Das Geräusch des Aufpralls hallte durch die Marmorflure. Ohne eine Reaktion abzuwarten, nahm er Kahlan beim Arm und marschierte mit wehendem Goldcape davon. Kahlan hatte einen hochroten Kopf bekommen. Die beiden Mord-Sith folgten breit grinsend. Auch Drefan lächelte, während er den anderen hinterherging. Nadine zeigte keinerlei Reaktion.

51

In der Ferne bellte ein Hund, als Richard sie die kopfsteingepflasterte Gasse hinaufführte. Vor einem kleinen Hinterhof hinter dem Haus der Andersons ließ er seine Begleitung haltmachen. Im Hof herrschte immer noch das gleiche Durcheinander aus abgesägten Holzresten, Holzsplittern und -spänen sowie entastetem, roh zugeschnittenem Holz und den zwei Sägeböcken.

Richard hörte weder Stimmen noch den Lärm, der bei der Bearbeitung von Holz entsteht. Er drückte das Tor auf und bahnte sich einen Weg durch das Chaos. In der Werkstatt blieb alles still. Auf sein Klopfen hin regte sich nichts. Richard stieß eine der Doppeltüren auf und rief hinein. Keine Antwort.

»Clive!« rief Richard noch einmal. »Darby! Erling! Ist jemand zu Hause?«

An den Haken der staubigen Wände hingen alte Stühle und Schablonen, und in allen Ecken saßen Spinnweben. Oben roch man anstelle von Fleischpasteten und kochenden Pastinaken den betäubenden Gestank des Todes.

Clive Anderson saß auf einem der Stühle, die er selbst getischlert hatte. Er war tot. In den Armen hielt er den erstarrten Leichnam seiner Frau.

Richard stand wie gelähmt vor diesem Anblick. Er hörte, wie Kahlan hinter ihm ein Schluchzen entfuhr.

Drefan ging hinauf in die Schlafzimmer. Dort sah er sich kurz um und kam kopfschüttelnd zurück.

Richard starrte auf den toten Ehemann und seine Frau. Er versuchte, sich Clives Elend vorzustellen, wie er dort gesessen hatte, pestkrank, und seine Frau, all seine Träume und Hoffnungen, tot in den Armen hielt.

Drefan schob Richard eine Hand unter den Arm und zog ihn fort.

»Wir können hier nichts mehr tun, Richard. Am besten gehen wir und lassen einen Totenkarren kommen.«

Kahlan preßte ihr Gesicht an seine Schulter und weinte. Er sah die bestürzten Gesichter von Berdine und Raina. Er bemerkte, wie ihre Hände sich fanden und ineinander verschlangen – eine verstohlene, traurige Geste. Nadine wandte den Blick von den übrigen ab. Plötzlich tat sie Richard leid. Drefan legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zu trösten. Eine quälende Stille hatte sich über den Raum gesenkt.

Richard hielt Kahlan eng an sich gedrückt, während sie die Treppe hinunterstiegen. Die anderen folgten. Als sie die Werkstatt erreichten, schöpfte er endlich wieder Luft. In dem Gestank oben war ihm fast schlecht geworden.

In diesem Augenblick kam Erling, der Großvater, zur Tür herein. Er erschrak, als er sechs Personen in seiner Werkstatt stehen sah.

»Entschuldigt, Erling«, sagte Richard. »Wir hatten nicht die Absicht, in Euer Heim einzudringen. Wir sind gekommen, um nach Euch zu sehen. Um…«

Erling nickte matt. »Mein Sohn ist tot. Hattie auch. Ich mußte … das Haus verlassen. Ich konnte sie nicht alleine tragen.«

»Wir schicken sofort einen Karren her. In der nächsten Straße stehen ein paar Soldaten. Ich werde ihnen sofort sagen, sie sollen Euch helfen.«

Erling nickte abermals. »Das wäre freundlich von Euch.«

»Und … die anderen? Sind sie –«

Erling hob die blutunterlaufenen Augen. »Meine Frau, meine Tochter, mein Sohn, seine Frau, Darby und die kleine Lily – alle tot.« Sein Mund arbeitete, während ihm die Tränen in die Augen traten. »Beth hat sich wieder erholt. Sie ist wieder gesund geworden. Ich konnte mich nicht um sie kümmern. So habe ich sie zunächst einmal zu Hatties Schwester gebracht. Bis jetzt sind in ihrem Haus alle gesund.«

Richard legte behutsam eine Hand auf Erlings Arm. »Es tut mir so leid. Gütige Seelen, es tut mir so leid.«

Erling nickte. »Danke.« Er räusperte sich. »So lange, wie ich lebe, da würde man denken, daß es mich erwischt und nicht die Jungen. Die Seelen waren in dieser Angelegenheit nicht gerecht, alles andere als gerecht.«

»Ich weiß«, sagte Richard. »Jetzt sind sie an einem Ort, wo Frieden herrscht. Früher oder später werden wir alle dorthin gehen. Dann werdet Ihr wieder bei ihnen sein.«

Nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß Erling nichts brauchte, blieben sie draußen auf der Gasse kurz stehen, um ihre Gedanken zu ordnen.