»Raina«, sagte Richard, »bitte lauft hinüber in die nächste Straße, wo wir die Soldaten gesehen haben. Holt sie sofort her. Sagt ihnen, sie sollen die Leichen für Erling fortschaffen.«
»In Ordnung«, sagte sie, dann eilte sie davon. Ihr dunkler Zopf wehte ihr beim Laufen hinterher.
»Ich weiß nicht, was ich machen soll«, sagte Richard leise. »Was kann man für jemanden tun, der soeben seine ganze Familie verloren hat? Alle, die er geliebt hat? Ich bin mir wie ein Narr vorgekommen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.«
Drefan drückte Richards Schulter. »Du hast das Richtige gesagt, Richard. Ganz bestimmt.«
»Deine Worte waren ein Trost für ihn, Richard«, stimmte auch Nadine zu. »Mehr konntest du nicht tun.«
»Mehr konnte ich nicht tun«, wiederholte Richard, den starren Blick auf einen Punkt in der Ferne gerichtet.
Kahlan drückte seine Hand. Berdines Hand berührte seine. Er ergriff sie. Die drei standen da, verbunden durch ihren gemeinsamen Kummer.
Richard ging auf und ab und wartete, daß Raina zurückkam. Die Sonne war fast untergegangen. Es würde dunkel sein, bevor sie wieder im Palast waren. Das mindeste, was sie tun konnten, war zu warten, bis Erling jemanden hatte, der ihm half, seinen toten Sohn und seine Schwiegertochter aus dem Haus zu schaffen.
Kahlan und Berdine standen nebeneinander, an die Mauer neben dem Hinterhof der Andersons gelehnt. Drefan hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schlenderte scheinbar gedankenverloren ein Stück die Gasse zurück. Nadine ging auf die andere Seite der Straße, alleine, und lehnte sich an die Schindelwand.
Richard lief auf und ab und dachte an den Tempel der Winde und die Magie, die Jagangs Imperiale Ordnung daraus gestohlen hatte. Richard wußte einfach keinen Weg, wie er diesem Sterben ein Ende setzen konnte. Sobald er daran dachte, wie Tristan Bashkar Kahlan angesehen hatte, geriet sein Blut in Wallung.
Richard hielt inne. Er hob den Kopf. Hinter ihm stand Nadine. Er hatte ein äußerst eigenartiges Gefühl.
Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf.
Richard hörte das Sirren in der Luft und wirbelte herum.
Die Welt verlangsamte sich. Geräusche dehnten sich. Er schien zu schweben, wenn er sich bewegte. Die Luft schien zäh wie Schlamm. In seinen Augen wirkten alle wie Statuen.
Die Zeit gehörte ihm.
Sein Arm streckte sich, während er nach vorne schwebte. Er gebot über die Zähflüssigkeit der Luft. In der unheimlichen Stille hörte er die Federn schwirren. Er hörte das Sirren der Pfeilspitze.
Die Zeit gehörte ihm.
Nadines erschrockenes Blinzeln dauerte eine Ewigkeit.
Er schloß seine Faust.
Mit einem schmetternden Geräusch stürzte die Welt wieder auf ihn ein.
Richard hielt den Bolzen einer Armbrust in der Hand.
Die Spitze war keine drei Zoll von Nadines aufgerissenen Augen entfernt.
Den Bruchteil einer Sekunde später, und sie hätte Nadine getötet. Dieser Sekundenbruchteil war ihm wie eine Stunde erschienen.
»Richard«, keuchte Nadine atemlos, »wie hast du den Pfeil gefangen? Du bist dir hoffentlich im klaren, daß du mir einen gehörigen Schrecken eingejagt hast. Nicht, daß ich mich beschweren möchte«, fügte sie noch rasch hinzu.
Drefan war im Nu bei ihnen. Sein Kiefer hing schlaff herunter. »Wie hast du das gemacht?« fragte er tonlos.
»Ich bin ein Zauberer, schon vergessen?« sagte Richard, drehte sich um und spähte in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war. Er glaubte eine Bewegung zu erkennen.
Kahlan trat zu Nadine, die wie Espenlaub zitterte. »Alles in Ordnung?«
Nadine nickte und stieß einen verspäteten Schreckensschrei aus, als Kahlan sie tröstend in die Arme zog.
Richards Augen hefteten sich auf die Bewegung, während er den Pfeil in der Hand zerbrach. Er rannte los. Berdine lief ihm hinterher.
Richard drehte sich im Laufen um. »Sucht ein paar Soldaten zusammen! Das ganze Viertel soll abgesperrt werden! Ich will, daß er gefaßt wird!«
Berdine bog in eine Straße ein und suchte nach Soldaten. Richard rannte schnell wie der Wind bei einem Unwetter. Eine Woge von Wut brodelte in ihm auf. Jemand hatte versucht, Nadine umzubringen.
In diesem Augenblick war Nadine nicht die Frau, die Shota geschickt hatte, damit sie ihn heiratete, sie war einfach die alte Freundin aus der Heimat. Der Zorn der Magie packte ihn mit seiner ganzen Wucht.
Gebäude flogen vorbei. Hunde kläfften, als er vorüberrannte. Menschen in der Gasse schrien erschrocken auf und brachten sich mit einem Sprung in Sicherheit. Eine Frau duckte sich kreischend an ein kleines, windschiefes Lagerhaus.
An der Stelle, wo er die Bewegung bemerkt hatte, setzte Richard über einen niedrigen Bretterzaun hinweg. Mitten im Sprung zog er sein Schwert. Die Luft hallte wider vom unverwechselbaren Klirren des Stahls.
Bei der Landung rollte er ab und kam mit dem Schwert in beiden Händen wieder auf die Beine. Er sah sich Auge in Auge einer Ziege gegenüber. Sonst war niemand zu sehen. Auf der Erde, zwischen Bretterzaun und niedrigem Ziegenstall, lag eine Armbrust.
Er sah sich nach allen Seiten um. Wäscheleinen hingen voller Laken und Hemden. Auf einem Balkon jenseits der flatternden Wäsche stand, ein blaues Tuch ums Haar gewickelt, eine Frau.
Richard ließ das Schwert in die Scheide zurückgleiten und formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund. »Habt Ihr hier einen Mann gesehen?« brüllte er zu der Frau hinauf.
Sie deutete nach rechts. »Ich habe gesehen, wie jemand dort entlang gerannt ist«, rief sie ihm von weitem zu.
Richard lief in die Richtung los, die die Frau ihm angedeutet hatte. Die Gasse wurde enger. Hinter dem Tunnel aus Gebäuden öffnete sich die Gasse auf eine Straße. Er schaute in beide Richtungen.
Er packte eine junge Frau am Arm. »Hier ist eben ein Mann durchgelaufen. In welche Richtung ist er gerannt?«
Verängstigt versuchte sie, sich loszureißen und gleichzeitig mit ihrer anderen Hand den Hut auf ihrem Kopf festzuhalten. »Hier sind überall Menschen. Was denn für ein Mann?«
Richard ließ ihren Arm los. Von ihm aus gesehen links die Straße hoch sah er, wie ein Mann damit beschäftigt war, einen umgestürzten Handkarren mit frischem Gemüse wieder aufzurichten. Der Mann blickte auf, als Richard keuchend aus vollem Lauf vor ihm stehenblieb.
»Wie sah er aus? Der Mann, der hier durchgerannt ist – wie sah er aus?«
Der Mann schob seinen breitkrempigen Hut zurecht. »Keine Ahnung.« Er streckte den Arm aus. »Ich war gerade auf der Suche nach einem guten Standplatz. Ich hörte, wie mein Karren umfiel. Dann bemerkte ich einen dunklen Schatten, der dort hinauf lief.«
Richard rannte weiter. Der alte Stadtkern verzweigte sich zu einem Gewirr aus Gassen, Straßen und verschlungenen Durchgängen. Er konnte sich nur am goldenen Glanz über dem westlichen Himmel orientieren. Das bedeutete allerdings nicht, daß der Mann, den er verfolgte, ein bestimmtes Ziel hatte. Wahrscheinlich lief er einfach drauflos und suchte sein Heil in der Flucht.
Richard stieß auf eine Patrouille aus einem Dutzend Soldaten. Bevor sie salutieren konnten, hatte er schon zu sprechen angefangen.
»Irgendwo hier ist ein Mann vorbeigerannt. Hat ihn einer von euch bemerkt?«
»Wir haben niemanden gesehen. Könnt Ihr ihn uns beschreiben?«
»Nein. Er hat uns mit einer Armbrust überfallen und ist dann geflohen. Ich will, daß er gefaßt wird. Schwärmt aus und macht euch auf die Suche.«
Bevor sie aufbrechen konnten, kam Raina mit gut fünfzig Mann die Straße hinaufgestürmt.
»Habt Ihr gesehen, wo er hingelaufen ist?« fragte sie, völlig außer Atem.
»Nein. Ich habe ihn irgendwo dort drinnen verloren. Ich möchte, daß ihr alle ausschwärmt und ihn findet.«
Einer der Soldaten, ein Unterkommandant, meldete sich zu Wort. »Lord Rahl, ein Mann, der fliehen will, würde sich nur verdächtig machen, wenn er rennt. Wenn er nur einen Funken Verstand hat, biegt er einfach um eine Ecke und geht gemächlich weiter.«
Der Unterkommandant deutete nach hinten, die Straße hinauf, um sein Argument zu unterstreichen. Überall gingen Menschen ihren Geschäften nach, wenn auch eine ganze Menge zu der aufgeregten Szene herüberstarrte. Jeder von ihnen hätte der Mann sein können, dem er nachjagte.